Ein Milliardenmarkt boomt. Verbraucherschützer kritisieren die Vermischung von Nahrung mit Medikamenten

Hamburg. Die Verbindung von Medikamenten und Lebensmitteln hat eine lange Tradition beim Schweizer Konzern Nestlé. Immerhin war es ein Apotheker, der Mitte des 19. Jahrhunderts den heute weltgrößten Nahrungsmittelhersteller gründete. Henri Nestlé verkaufte ein "Kindermehl" genanntes Milchpulver, das als Ersatznahrung für Säuglinge diente. In kürzester Zeit entwickelte es sich zum größten Verkaufsschlager des Konzerns.

Heute schickt sich der Hersteller von Maggi-Suppen, Kitkat-Riegeln, Smarties und Buitoni-Nudeln an, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Nicht weniger als die Gründung einer neuen Industrie zwischen Ernährungs- und Pharmageschäft kündigte Nestlé-Verwaltungsratschef Peter Brabeck in dieser Woche an. Vollmundig versprach er Lebensmittel gegen Diabetes, Fettleibigkeit, Arteriosklerose und sogar gegen Alzheimer. Zu diesem Zweck hat Nestlé die Tochter Health Science gegründet, die Anfang kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen soll.

Damit will der Branchenriese das sogenannte Functional Food, also Lebensmittel mit einem gesundheitlichen Zusatznutzen, auf eine ganz neue Stufe heben. In Deutschland wird dieser Markt bislang durch Produkte wie Blutwerte beeinflussende Margarine oder probiotische Joghurts dominiert. Nestlé ist in diesem Geschäft unter anderem mit dem Joghurt LC1 vertreten, der laut Werbebotschaft die "Darmflora ins Gleichgewicht" bringen soll. Daneben hat der Konzern auch spezielle Lebensmittel, etwa für Senioren mit Mangelernährung oder Schluckbeschwerden im Programm.

Schon heute setzt Nestlé mit solchen Produkten jährlich rund 1,2 Milliarden Euro um. Das weltweite Potenzial des Marktes schätzen die Schweizer freilich noch weitaus höher ein, nämlich auf rund 110 Milliarden Euro. "Bei den neuen Produkten kann es sich sowohl um Nahrungsmittel handeln, die in Drogerien und Supermärkten erhältlich sind, aber auch um Produkte, die verschreibungspflichtig sind und über Apotheken oder Krankenhäuser vertrieben werden", sagt Nestlé-Sprecherin Melanie Kohli dem Abendblatt.

Genau lassen sich die Eidgenossen bei ihrer Produktplanung nicht in die Karten schauen. Klar ist aber, dass es weniger um Tütensuppen gegen das Vergessen oder Anti-Diabetes-Riegel von Kitkat gehen wird, sondern mehr um neue Gesundheitsdrinks zum Frühstück, die Nestlé schon heute unter dem Namen Carnation Instant Breakfast in den USA vertreibt.

Neben Nestlé haben längst auch Konkurrenten wie Danone das Geschäft mit den gesundheitsfördernden Lebensmitteln für sich entdeckt. So können Fernsehzuschauer derzeit nur schwer den Werbespots mit dem Schauspieler Heiner Lauterbach entkommen. Auf allen Kanälen gibt der 57-Jährige den geläuterten Lebemann, der in seinem Kühlschrank regelmäßig nach einem Fläschchen Danacol greift - dem Herzen zu liebe.

Der Trinkjoghurt soll zur Senkung des Cholesterinspiegels im Blut beitragen und so die Gefahr eines Herzinfarkts reduzieren. Ähnlich wie bei der Margarine Becel pro-activ von Unilever basiert die Wirkung dabei auf sogenannten Pflanzensterinen. Obwohl deren Wirkung medizinisch umstritten ist, dürfen die Unternehmen mit entsprechenden gesundheitsbezogenen Aussagen werben. Die EU hat diese sogenannten Health Claims (siehe Winkel) abgesegnet.

Für Danone soll das im September eingeführte Danacol zu dem nächsten großen Umsatzrenner nach dem Verkaufsschlager Actimel werden. Den Inhalt von 2,8 Millionen der kleinen Flaschen, die die Abwehrkräfte stärken sollen, schütten allein die Deutschen nach Konzernangaben täglich in sich hinein.

"Wer krank ist, sollte zum Arzt oder in die Apotheke gehen."

Und die nächsten "heilenden Lebensmittel" befinden sich schon in der Entwicklung. 1200 Mitarbeiter beschäftigen die Franzosen im eigenen Forschungszentrum, in das der Konzern jährlich rund 200 Millionen Euro steckt. Dort unterhält Danone unter anderem auch eine Bank mit Bakterienstämmen, die das Unternehmen auf mögliche gesundheitsfördernde Wirkungen untersuchen will.

Während also die Konzerne daran arbeiten, den heimischen Kühlschrank immer mehr in eine Hausapotheke umzufunktionieren, schätzen Verbraucherschützer die Vermischung von Lebens- und Arzneimitteln als äußerst problematisch ein. "Wer Hunger hat, sollte in den Supermarkt gehen, wer krank ist, zum Arzt oder in die Apotheke", sagt der Sprecher der Organisation Foodwatch, Martin Rücker, dem Abendblatt. Aus seiner Sicht besteht bei Produkten wie cholesterinsenkender Margarine das Problem, dass Verbraucher ohne Aufsicht durch einen Arzt damit anfangen, ihre Blutwerte zu manipulieren. "Außerdem ist kaum sichergestellt, dass nicht auch Kinder zu der Margarine greifen, die eigentlich für die Eltern gedacht ist", so Rücker.

Die Wirkung anderer Produkte wie Actimel von Danone hält Foodwatch schlicht für überbewertet. "Actimel stärkt die Abwehrkräfte nicht mehr als jeder andere Naturjoghurt auch, ist aber dreimal so teuer", sagt Rücker. Aus Sicht der Verbraucherschützer könnten die Nahrungsmittelkonzerne sehr viel mehr für eine gute Ernährung tun, wenn sie gezuckerte Frühstücksflocken oder Fruchtdrinks künftig nicht mehr als gesund bewerben würden. "Die versteckten Zuckerbomben sind mitverantwortlich für das grassierende Übergewicht in Deutschland", sagt Rücker.