Die Ostsee-Pipeline bringt Deutschland mehr Versorgungssicherheit - und Lubmin vielleicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung.

Lubmin/Anklam. Jürgen Seidel bekommt den Tunnelblick, jedenfalls mal kurz für zehn Minuten. So lange dauert es, durch zwei Betonröhren hindurchzugehen, die das Hafenbecken von Lubmin im Nordosten Deutschlands unterqueren. Seidel (CDU), Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, besucht die Baustelle des Energieversorgungsunternehmens Wingas. Durch die beiden Tunnel werden in den kommenden Tagen Stahlröhren geschoben, die künftig zu einer der wichtigsten Erdgasleitungen Europas gehören, der Nord-Stream-Pipeline. Aus Russland werden die beiden Stränge nach ihrer Fertigstellung quer durch die Ostsee führen. Draußen, in Sichtweite des Lubminer Hafens, setzt ein Spezialschiff bereits das Endstück des zweiten Strangs ab, das von einer Schwerlastwinde an einer armdicken Stahltrosse an das Ufer zur späteren Anlandestation gezogen wird.

Europas Anbindung an Russlands Erdgas wird noch enger

Für die Energieversorgung Europas hat die Ostsee-Pipeline, deren prominentester Lobbyist der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist, enorme strategische Bedeutung. Als dritte große Fernleitung wird sie Deutschland und die Nachbarländer noch enger an die riesigen Erdgasvorkommen binden, die in den Permafrostgebieten Sibiriens lagern. Jahrelang wurde um die Pipeline und um ihren genauen Verlauf gestritten. Vor allem Polen stemmte sich dagegen, bei der Trassenlegung durch die Ostsee umgangen zu werden. Längst aber ist der Verlauf geklärt, hat der Bau begonnen. Von Herbst 2011 an soll das erste Erdgas durch die Pipeline fließen. Mit einem jährlichen Durchsatz von rund 55 Milliarden Kubikmetern kalkulieren der russische Erdgaskonzern Gazprom und seine deutschen Partnerunternehmen E.on und Wingas, das entspricht etwa der Hälfte des Jahresbedarfs in Deutschland. Ein Teil des Erdgases wird in die Nachbarländer weitergeleitet.

Für Mecklenburg-Vorpommern bietet die Pipeline die vielleicht letzte Chance, Lubmin wieder zu einem Energieversorgungszentrum von regionalem und überregionalem Rang zu machen. Früher lief hier das größte Atomkraftwerk der DDR mit seinen zwei Blöcken. Die rund 1,3 Kilometer lange, von den Reaktoren geräumte Halle erinnert noch heute an die damalige Gigantomanie. Einige Hundert Spezialisten erledigen den "Rückbau", die Demontage des alten Kraftwerks. Nebenan fertigt das Bremerhavener Unternehmen Weserwind Fundamente für Offshore-Windkraftanlagen, vor einer Mole des Hafenbeckens ist eine kleine Marina für Sportboote entstanden. Aber all das reicht bei Weitem nicht aus, um die ehemals bis zu 10 000 Arbeitsplätze im Atomkraftwerk zu ersetzen, die seit der deutschen Einheit schrittweise wegfielen. Und der dänische Energiekonzern Dong gab 2009 seine Pläne für ein großes Kohlekraftwerk in Lubmin auf.

Wirtschaftsminister Seidel hofft deshalb, dass E.on und Energie Baden-Württemberg (EnBW) ihre Ankündigungen wahr machen und zwei große Gas- und Dampfkraftwerke auf dem Gelände errichten. Sie erzeugen Strom und Wärme. Die Wärme könnten Industrieunternehmen nutzen, zum Beispiel aus der Chemiebranche, die man ebenfalls am Standort ansiedeln möchte. "Ich vermute, über die beiden Kraftwerksprojekte wird entschieden, wenn das Gas erst einmal hier ist und sich ein Preis dafür bildet", sagt Seidel. "Nur mit einem grundlegenden Schwung wie der Pipeline und mit Kraftwerken kann man an so einem Standort andere Unternehmen anziehen. Wir brauchen hier im Land viel mehr industrielles Gewerbe, denn wir liegen weit unter dem Bundesdurchschnitt." Bei der Arbeitslosigkeit hingegen liegt Mecklenburg-Vorpommern deutlich darüber, mit 11,6 sind es 3,5 Prozentpunkte mehr als im gesamten Bundesgebiet.

Bei Lubmin wird die Ostsee-Pipeline mit weiteren neuen Leitungen verbunden

Feste Arbeitsplätze in der Energiebranche und in der Industrie sind im wirtschaftlich schwächsten Bundesland hoch willkommen. Zwar wird die Ostsee-Pipeline mit zwei neuen Leitungen an Land nach Süden und Westen hin verlängert. Bei deren Errichtung finden auch etliche Einheimische, etwa Bauarbeiter oder Transportunternehmer, Arbeit und Einkommen. Aber vor allem werden die Pipelines von Arbeitern aus anderen deutschen Regionen oder aus dem Ausland gebaut. Schon 2011 soll die südlich verlaufende OPAL, die Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung, fertig sein, wenn nichts Gravierendes dazwischenkommt. Und nach großen Verzögerungen sieht es nicht aus.

Auf einem Feld nahe der Stadt Anklam, rund 40 Kilometer südlich von Lubmin, stehen Staubfahnen in stechender Sonnenhitze. Rad- und Raupenfahrzeuge fahren über die Bautrasse der OPAL und wirbeln den feinen Sand des freigelegten Ackerbodens auf. Thilo Thunhorst kurbelt am Steuer und lenkt seinen völlig verstaubten Nissan-Geländewagen an den Pipelinerohren entlang. An einem Raupenschlepper, dessen Ausleger eine Zeltkonstruktion über die Stahlröhren hält, stoppt er. Das Zelt ist trotz der Hitze geschlossen. Drinnen faucht etwas. "Die Männer schweißen in den Zelten die Nähte der Pipelineröhren in mehreren Lagen zusammen", erklärt der 40 Jahre alte Bauleiter von Wingas. "Beim Schweißen darf keine Zugluft und auch kein Staub an die Nähte kommen." Das Zelt wird geöffnet. Zwei verschwitzte Männer in Arbeitsanzügen und Kopfschutz treten heraus und zünden sich eine Zigarette an. "Die Jungs, die jeden Tag hier draußen arbeiten, sind wirklich hart im Nehmen", sagt Thunhorst.

Das tun die Arbeiter nahezu bei jedem Wetter. Im Winter, bis bei etwa minus 15 Grad der Diesel für die Baumaschinen einfriert, und im Sommer, wenn ihnen Staub und Hitze den Atem rauben. 27 000 Stahlröhren werden für die rund 470 Kilometer lange OPAL verbaut. Jede von ihnen wiegt 18 Tonnen und wird von einem der Zwischenlager in einem Einzeltransport von einem Lastwagen an die Trasse gebracht. Dort werden die Nähte verschweißt, danach unter anderem mit Röntgengeräten akribisch auf ihre Dichte hin geprüft und schließlich mit Kautschukklebeband gegen Rostfraß umwickelt. Wenn der Pipelinestrang bereits liegt, gräbt ein Bagger den Graben aus. Raupenfahrzeuge mit seitlichen Auslegern heben die Riesenröhre abschnittsweise in die Versenkung. An guten Tagen können die Arbeiter einen Kilometer in drei Stunden schaffen. "Das sind alles eingespielte Kolonnen, die seit Jahren zusammenarbeiten", sagt Thunhorst. Am Schluss wird die Pipeline abgedeckt und der Deckboden neu bepflanzt.

Tausende von Hindernissen stehen und liegen der Pipeline auf ihrem Weg von Mecklenburg-Vorpommern in das südliche Sachsen im Weg: schwere Findlinge, archäologische Funde, Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg und natürlich Straßen, Bäche und Flüsse. Geologen und Archäologen freuen sich darüber, dass sie während der Arbeiten aus der Erde lesen oder Relikte der menschlichen Geschichte daraus bergen können, und auch der Kampfmittelräumdienst kommt zu seinen Einsätzen. Straßen werden von den Arbeitern mit speziellen Bohrvortriebstechniken unterquert, weil man sie zumeist nicht lange sperren kann. Unter Gewässer, vom Bach bis zum Fluss, bauen die Spezialisten Düker, Unterquerungen ähnlich dem unter dem Lubminer Hafen.

Die Störche im Feld nebenan lassen sich vom Pipelinebau nicht stören

Neben der 36 Meter breiten Pipelinetrasse erntet ein Mähdrescher Weidegras und pumpt es auf die Hänger des nebenher fahrenden Schleppers. Ungerührt von Lärm, Staub und Dieselschwaden staksen Störche durch das abgemähte Feld und suchen sich Insekten. Es sind auch solche Eindrücke, die Thunhorst an seiner Arbeit begeistern. Ursprünglich erstellte er Umweltgutachten für den Pipelinebau, später baute er sie selbst, "weil ich das spannender finde", sagt er. "Die vielen Herausforderungen wechseln jeden Tag, und das macht diese Arbeit besonders spannend." Etliches muss bedacht werden, etwa die Einschränkung, dass während der Ferienzeiten tagsüber keine Schwertransporte rollen dürfen, um die Touristenströme nicht zu behindern.

Die Arbeiter räumen allmählich ihre Gerätschaften auf und fahren die Maschinen zu den Sammelstellen. Jede zweite Woche ist bereits am Donnerstagmittag Feierabend, damit sie in ihre teils weit entfernte Heimat reisen können. "Viele sind hier von Bauunternehmen aus Süddeutschland, einige auch aus Italien", sagt Thunhorst. Rund 2500 Menschen arbeiten derzeit entlang der gesamten Trasse.

Ein weißhaariger Herr im staubigen Arbeitsanzug kommt vorbei und grüßt seinen jüngeren Kollegen. Seit 48 Jahren baue er Pipelines auf der ganzen Welt, von China bis Brasilien, sagt Horst Dageförde, und aus seinem gebräunten Gesicht strahlen weiße Zähne. Im Januar wird er 70. "Drei Jahre mache ich noch. Aber ich bin wohl jetzt schon der älteste Pipelinebauer Deutschlands." Auch Thunhorst will noch einige Jahre dabeibleiben. Wenn die OPAL fertig ist, geht es für ihn mit der Norddeutschen Erdgasleitung (NEL) gleich weiter, die von Lubmin nach Bremen führen soll. "Erdgas hat große Wachstumsaussichten", sagt er. "Uns wird die Arbeit noch lange nicht ausgehen."