Hans-Christian Sievers leitet seit Kurzem den Hamburger Chemiehändler Helm AG – und blickt auf eine ungewöhnliche Karriere zurück.

Hamburg. Es riecht nach Chemie. Eigentlich nicht verwunderlich beim weltweit größten, unabhängigen Chemikalienhändler. Doch in dem achtgeschossigen Gebäude in der Nordkanalstraße hat die Hamburger Helm AG weder Lagertanks noch Laboratorien. Hier sitzt die Hauptverwaltung mit rund 500 Mitarbeitern. Es riecht nach Teppichkleber und Farbe. Denn das Hamburger Familienunternehmen macht sich schön für die Zukunft. Einen zweistelligen Millionenbetrag investiert die Helm AG in den klobigen 70er-Jahre-Bau in der City Süd. Alles wird neu. Die Fassade, die Klimaanlage, die Böden, die Wände. Mitte 2013 soll das Gebäude komplett renoviert sein.

Neu ist auch der Chef: Hans-Christian Sievers, 47, modischer blauer Anzug, blaue Krawatte, blaue Augen. Anfang des Jahres hat er den Vorstandsvorsitz übernommen. Nun sitzt er in dem Büro am Ende des frisch renovierten Gangs im achten Stock. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Weltkarte, auf der alle Helm-Standorte verzeichnet sind. Die Größe und Bedeutung des Chemiespezialisten, der im Jahr 2010 rund acht Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete, lässt sich hier erahnen. Die restlichen Wände in dem Büro - mit einem traumhaften Blick über Hamburg - sind mit weißer Farbe frisch gestrichen. "Dort kommen Bilder aus Mexiko hin", sagt Sievers und zeigt mit dem Finger auf eine der kahlen Flächen. Mexiko, das Land, in dem seine berufliche Karriere begann.

Aber ganz am Anfang stand der Chemiebaukasten, den er zu Weihnachten bekam. Mit 14, 15 Jahren. "Chemie fand ich einfach faszinierend", erinnert sich Sievers an seine Jugend. Während das Gros seiner Mitschüler froh war, das Fach mit dem komplexen Periodensystem abwählen zu können, freute sich Hans-Christian Sievers auf jede Stunde seines Leistungskurses. Nach Abitur und Marine grübelte der Junge aus einer Kaffeehändlerfamilie lange darüber nach, was er studieren sollte: Betriebswirtschaftslehre oder Jura? Die Eltern gaben den Ratschlag für eine sichere Zukunft: "Werde erst mal Kaufmann!" Der Sohn schrieb zwei Bewerbungen, eine davon an die Helm AG. Und dort machte er seine Lehre.

Sievers fiel auf, im positiven Sinne. Sein Verkaufstalent sprach sich schnell im Unternehmen herum. Bald bekam er ein ungewöhnliches Angebot. Mit 23 Jahren sollte er nach Mexiko ziehen. Der Auftrag: verkaufen. Das Rüstzeug: Talent und ein vierwöchiger Spanisch-Intensivkurs. Sievers erkannte seine Chance und der Vorstand seine Qualitäten. Bereits mit 29 Jahren wurde er Geschäftsführer in Mexiko. "Verdammt jung für einen solchen Posten", sagt Sievers im Rückblick. Ein Studium brauchte er nicht. Heutzutage eine undenkbare Karriere. Stattdessen durchlief er ein Jahr lang die wichtigen Abteilungen des Unternehmens: Buchhaltung, Lager, Personal, Labor, Kreditwesen.

Sievers lernte nicht nur die Geheimnisse der Helm AG kennen, sondern auch seine spätere Ehefrau, eine mexikanische Ärztin. Beide Kinder kamen in Mittelamerika zur Welt - und die Erinnerungen an Mexiko sind noch heute sehr lebendig. Sievers spricht von einem "Jammern auf hohem Niveau", welches er die ersten Jahre nach seiner Rückkehr in Deutschland empfunden habe. In Mexiko seien sich viele Menschen selbst überlassen. Staatliche Unterstützung wie Hartz IV gebe es dort nicht. Die Schattenseite: Wer zu Wohlstand gekommen sei, müsse viel in die eigene Sicherheit investieren. Mauern um das eigene Haus seien die Regel.

2001 ging Sievers nach Hamburg zurück - direkt in den Vorstand der Helm AG. Zuständig für das internationale Geschäft. Er habe lange mit seiner Frau über diesen Schritt diskutiert. Aber am Ende war der ganzen Familie klar: So ein Angebot konnte er nicht ablehnen. Für Frau und Kinder war es der Umzug in eine neue Welt, für Sievers die Rückkehr in die alte Heimat. Der Kontakt zu Familie und Bekannten in Mexiko ist weiter eng, zu Hause in Hamburg wird noch heute abwechselnd Spanisch und Deutsch gesprochen.

Im November 2009 geschah dann etwas, mit dem Hans-Christian Sievers, wie er sagt, niemals gerechnet hätte. Dieter Schnabel, Eigentümer und über mehr als ein Vierteljahrhundert Vorstandschef der Helm AG, bat ihn in das Büro am Ende des Gangs im achten Stock. Ein formeller Termin. Es ging um die Verlängerung des Vorstandsvertrags. Sievers unterschrieb. Nach der Unterschrift kam Schnabel zum eigentlichen Grund des Gesprächs. Er wolle den Chefsessel Anfang 2012 räumen, sagte Schnabel. "Und dann bot er mir seinen Posten an", erinnert sich Sievers. "Ich war wirklich sprachlos und gerührt." Der verdutzte Manager erbat sich Bedenkzeit. "Schließlich sollte ich die Verantwortung für weltweit 1300 Mitarbeiter und ihre Familien übernehmen." Nach knapp einer Woche sagte er zu. Und einen Ratschlag von Dieter Schnabel hat er noch heute im Kopf: "Am besten können Sie mit Druck umgehen, wenn Sie sich davon freimachen." In Ruhe nachdenken, dann entscheiden. Von niemandem drängen lassen. Sievers handelt danach.

Seit gut fünf Wochen leitet er den Chemiegiganten nun. An seiner Seite steht ein kompetentes Vorstandsteam mit einem vergleichsweise jungen Kollegen: Stephan Schnabel. Der 37-jährige Sohn des Eigentümers verantwortet seit 1. Januar das Geschäft mit Industriechemikalien und Pflanzenschutzmitteln. Auf diesem Posten soll er Erfahrungen sammeln und womöglich eines Tages Sievers beerben. Der neue Vorstandschef nennt das Verhältnis zu Schnabel junior "sehr gut". Missgunst gebe es nicht. "Stephan Schnabel hat mir uneingeschränkt gratuliert", sagt Sievers. Nun gelte es, gemeinsam den Erfolg des Unternehmens auszubauen. Und zwar mit ruhiger Hand und langfristig denkend, wie Sievers betont. Ganz im Sinne von Schnabel senior, der in wenigen Monaten den Aufsichtsratsvorsitz der Helm AG übernehmen wird. "Das Schöne für uns als Familienunternehmen ist eben, dass wir nicht wie die Großen an der Börse notierten Konzerne von Quartal zu Quartal denken müssen", sagt der neue Chef.