Viele Einzelhändler und Pub-Besitzer in England müssen aufgeben. Der neue Premier David Cameron stimmt sein Volk auf harte Zeiten ein.

London. Wenn Trevor Huggins mit dem Zug aus der Londoner Innenstadt kommt und nach etwa 35 Minuten Fahrt die Station in Hampton Wick im feinen Südwesten der Themsemetropole verlässt, fällt sein Blick stets auf einen kleinen Blumenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vor mehr als einem Jahr erfreuten Huggins noch farbenfrohe Blüten in der Auslage. Nun jedoch schaut der 52 Jahre alte Sportjournalist durch eine schmutzige Fensterscheibe in einen dunkelgrauen Raum, der als Lager genutzt wird.

Und der Pub "The Railway" gleich nebenan ist auch aufgegeben worden, weil es sich für den Eigner, die Brauerei Greene King, nicht mehr lohnte. Erst nach einem Jahr wurden - zudem recht ungewöhnliche - Käufer gefunden. Der Lokalpresse ist weiter zu entnehmen, dass nun ein Ehepaar aus der näheren Umgebung das mehr als Hundert Jahre alte Gemäuer in unmittelbarer Nähe der Gleise in ihr neues Eigenheim verwandelt.

Der neue Premierminister stimmt sein Volk auf harte Zeiten ein

"Es haben noch eine ganze Reihe weiterer kleiner Geschäfte schließen müssen", erzählt Huggins. Das trifft nicht nur auf diese eher wohlhabende Gegend zu. Die Rezession erzeugte landesweit solch beklemmende Bilder. Und nun, wo es endlich zwei Quartale hintereinander wieder Wirtschaftswachstum gegeben hat, will die Regierung auch noch 6,2 Milliarden Pfund, derzeit rund 7,4 Milliarden Euro, einsparen. Details dazu sollen am 22. Juni bekannt gegeben werden.

Das freilich dürfte lediglich der erste Schritt sein, um das Defizit abzubauen, das sich auf 156 Milliarden Pfund oder 11,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beläuft. Vor wenigen Tagen beunruhigte der neue konservative Premierminister David Cameron, der einer Koalition mit den Liberalen vorsteht, überdies mit der Aussage, dass "das Ausmaß des Problems noch viel größer ist, als wir dachten". Damit will er seine Landsleute auf die stärksten Einschnitte seit der Ära von Margaret Thatcher einstimmen. "Wie wir mit diesen Dingen umgehen, wird unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, ja unsere ganze Lebensweise beeinflussen."

"Jeder sieht ein, dass das Defizit abgebaut werden muss", sagt Huggins. "Aber es wird grausam werden", befürchtet der schlanke Mann mit dem dunkelbraunen Haar. Er sieht vor allem Entlassungen im öffentlichen Dienst kommen. Dabei ist die Zahl der Arbeitslosen im ersten Quartal 2010 schon um 53 000 auf den höchsten Stand seit 16 Jahren geschnellt und liegt jetzt bei 2,51 Millionen. Das entspricht einer Rate von acht Prozent.

Experten befürchten, dass die Wirtschaft stark schrumpft

Peter Dixon, Volkswirt bei der Commerzbank in London, meint, es werde überdies in den kommenden Jahren auch noch Steuererhöhungen geben. "Natürlich schnallen die Verbraucher den Gürtel dann enger." Das spürt eine Nachbarin von Huggins schon länger. Deutlich weniger Patienten suchen seit einiger Zeit die Physiotherapeutin Lynn Main, 54, auf. Wer eine Behandlung benötigt, erhält diese umgehend nur, wenn er zusätzlich krankenversichert ist. Solche Sozialleistungen bieten in Großbritannien oft die Betriebe ihren Mitarbeitern. Doch diese Vergünstigungen hätten eine Reihe von Leuten verloren, sagt Main. "Entweder wartet man vielleicht ein halbes Jahr, bis die staatliche Krankenversicherung NHS die Behandlung gewährt, oder man zahlt sie aus eigener Tasche." Dixon meint, infolge der Sparmaßnahmen könnte in den kommenden beiden Jahren das Wachstum jeweils um einen Prozentpunkt niedriger ausfallen.

Wenn es denn überhaupt Wachstum geben sollte. Zumal die Kürzungen auch der Privatwirtschaft nicht helfen, sieht der Ökonom sogar das Risiko eines "Double Dip", also dass im laufenden Quartal die Wirtschaft wieder schrumpft. Das hält auch Nick Moon, Managing Director des britischen Marktforschungsinstituts GfK NOP, für möglich. Dabei war der Index für Mai, der noch vor Camerons Ankündigung der Sparmaßnahmen erhoben worden war, schon überraschend von minus 16 auf minus 18 Zähler gefallen. Überdies bewerteten die Briten damals bereits die Aussichten für die heimische Wirtschaft in den kommenden zwölf Monaten schlechter.

Die englische Nationalelf soll die Stimmung verbessern

Sollte das Verbrauchervertrauen, wie Moon vermutet, infolge der Haushaltskürzungen weiter nachgeben, würde dies die "Nation of Shopkeepers" hart treffen. Der private Konsum macht dort 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. In Deutschland sind es 58 Prozent nach Angaben von Dixon.

"Der Optimismus kommt zurück", frohlockt hingegen Mark Hastings. Für die nächsten Wochen darf er tatsächlich guter Hoffnung sein, da das englische Fußballteam als eines der stärksten bei der Weltmeisterschaft gilt und wohl lange im Turnier bleiben wird. Denn die Briten genießen oder durchleiden die Spiele vorwiegend dort, wo sie sich so ziemlich immer treffen und so ziemlich alles feiern: in ihrer ausgelagerten Wohnstube, dem Pub. Und Hastings ist Sprecher der British Beer & Pub Association, kurz BBPA.

Jede Woche verschwanden landesweit mehr als 50 Pubs

Doch im Allgemeinen erging es dieser urbritischen Institution in den vergangenen Jahren schlecht. Wie das "Railway" in Hampton Wick wurden viele Kneipen dichtgemacht. Höhere Steuern und das Rauchverbot, so klagte die BBPA bereits vor der Rezession, machten den Pubs eh schon zu schaffen. Doch verstärkte der Abschwung diesen Trend. Im ersten Halbjahr 2009 sank die Zahl der Kneipen netto im Schnitt jede Woche um 52, im zweiten Halbjahr waren es noch 39. Immerhin, die Talfahrt verlangsamt sich. Ob das Hastings' Optimismus rechtfertigt, sei einmal dahingestellt.

Nachvollziehbar aber ist, dass dieser Tage viele Briten froh sind, nicht zur Euro-Zone zu gehören. Das gilt auch für Main und Huggins, der dafür nicht nur die aktuellen Turbulenzen und Bürgschaften sowie die traditionelle Skepsis gegenüber dem "Kontinent" anführt. "Wir wollen die Höhe unserer Zinsen selbst bestimmen und dieses wichtige Instrument für unsere Wirtschaft nicht einer Behörde in einem anderen Land überantworten."

Genau das macht auch Hans-Günter Redeker, Leiter der globalen Devisenstrategie bei BNP Paribas in London, für den fallenden Kurs des Euro gegenüber dem Pfund geltend. "Die Bank of England kann sich flexibler auf die Bedürfnisse des Landes einstellen als die EZB auf die der Euro-Zone." Denn es gebe jetzt im Euro-Land keinen einheitlichen Kapitalmarkt mehr. So könne die EZB beispielsweise nicht die spezifischen Belange Spaniens berücksichtigen. Wurden Anfang März noch etwa 91 Pence für den Euro gezahlt, sind es nun rund 83. Redeker rechnet damit, dass der Kurs noch auf 79 Pence sinkt.

Die Märkte seien aber nicht notwendigerweise effizient, hält Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank, entgegen. In der Euro-Zone finde ein nachhaltiger Wandel statt, "den die Märkte mit der Zeit auch würdigen werden. Bis Ende des Jahres erholt sich der Euro wieder."

Redeker und Hellmeyer unterstützen allerdings einmütig die Absicht der britischen Regierung, eine unabhängige Kommission prüfen zu lassen, ob Investmentbanken und Geschäftsbanken getrennt werden sollen. Solch eine Trennung hatten die USA 1933 aufgrund der damaligen Weltwirtschaftskrise bereits mit dem Glass-Steagall-Act eingeführt. Das Gesetz wurde dann bis 1999 sukzessive aufgelöst.

Fachleute diskutieren über die Trennung des Bankensystems

Hellmeyer hält das "Trennbankensystem für den angelsächsischen Raum für gangbar". Redeker meint, es sei "keine schlechte Sache gewesen". Da sich die Finanzprodukte in den vergangenen Jahrzehnten aber weiterentwickelt hätten, müsse ein "geordneter Mittelweg" gefunden werden.

Die Trennung soll verhindern, dass Finanzinstitute so groß werden, dass sie ein systemisches Risiko darstellen und im Falle einer Insolvenz vom Steuerzahler gerettet werden müssen. Konkret würde dies die Zerschlagung großer Institute bedeuten.

Auch Dixon nennt die Trennung einen "klugen Weg, um das Risiko zu begrenzen" und weiß, dass die Idee "recht beliebt" bei der Bevölkerung ist. Allerdings werde es wohl außerordentlich schwer, sie durchzusetzen. "Das gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des britischen Bankensystems." Die Institute würden dann wohl nach Asien ausweichen. Huggins hingegen ist überzeugt, dass nach wie vor London und Washington maßgeblich die weltweiten Finanzregeln bestimmen. Tatsächlich gibt es in den USA ähnliche Bestrebungen, Größe und Einfluss der zum Teil sehr mächtigen Banken zu limitieren.

Wenn Huggins vom Bahnhof in Hampton Wick ein paar Hundert Meter die Kingston Road in Richtung Themse geht, sieht er zu seiner Rechten einen Gebäudekomplex, der gerade umgebaut wird. In die seit Langem leer stehenden Geschäftsräume zieht Sigma Sport, ein Händler mit Ausrüstungen für Radsportler und Triathleten. Der bisherige Laden in einem Haus ein paar Schritte weiter ist ihm zu klein geworden. Ein schöner Kontrast zu dem trüben Anblick, der sich beim Verlassen des Bahnhofs bietet - und möglicherweise ein kleiner Hoffnungsschimmer in einem verunsicherten Land.