Bundesarbeitsgericht kippt Kündigung. Ehemalige Kassiererin soll ihren Job im Supermarkt zurückerhalten

Erfurt. Und plötzlich strahlt sie. Sie ruft: "Ja!", und fängt an zu klatschen. Es ist, als würde Barbara E. zum ersten Mal seit Februar 2008 lachen. Damals verlor sie ihren Job, wegen 1,30 Euro. Zwei Getränkepfandbons, die ihr nicht gehörten, machten sie zur berühmtesten Kassiererin der Republik. Sie flüstert, als ob sie sich selbst überzeugen müsste "Ja. Ja. Ja." Sie hat gewonnen. Emmely gegen zwei Arbeitsgerichte. Emmely gegen die Kaiser's Tengelmann GmbH. Emmely gegen ... ach, gegen alles. Deutschland hat eine neue Heldin, so verbreiten es ihre Anhänger. Eine 52-jährige Frau, klein, blond, füllig, sie sieht erschöpft aus. Sicher auch, weil sie Probleme mit ihrer Rolle hat.

Das Erfurter Bundesarbeitsgericht hat gerade verkündet, dass Barbara E., genannt Emmely, ihren Job als Kassiererin bei der Supermarktkette Kaiser's zurückbekommt. Emmely - das war immer ihr Spitzname. Emmely aus Berlin-Hohenschönhausen wurde zur Marke. Zur Stellvertreterin der kleinen Leute, die wegen Kleinigkeiten gefeuert werden - im Gegensatz zu Managern, die Stellen streichen und trotz Bankencrashs Boni kassieren.

Zwei Leergutbons über 48 und 82 Cent wurden ihr zum Verhängnis

Emmely, heute 52, Mutter von drei Kindern, arbeitete seit 1977 als Verkäuferin. Zu DDR-Zeiten für die Ladenkette HO, ihre Filiale wurde nach der Wende von Kaiser's übernommen. Am 12. Januar 2008 fand eine Kollegin zwei Leergutbons: der eine im Wert von 48, der andere im Wert von 82 Cent. Zehn Tage später kaufte Emmely selbst in ihrer Filiale ein. Sie löste zwei Bons ein, der eine im Wert von 48, der andere im Wert von 82 Cent. Ihr Einkaufspreis minderte sich um 1,30 Euro. Und Kaiser's kündigte ihr fristlos, nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit.

Im Februar 2009 urteilte das Berliner Landesarbeitsgericht, dass Emmely zu Recht gekündigt wurde. Wolfgang Thierse (SPD) bezeichnete das Urteil als "barbarisch" und "asozial" - jetzt hatte der Fall bundesweite Bedeutung. Plötzlich schien es so, als ob sogenannte Bagatell-Kündigungen massenhaft ausgesprochen werden - obwohl die Zahl Experten zufolge seit Jahren stabil ist. Eine Altenpflegerin aus Konstanz verlor ihren Job, weil sie sechs Maultaschen mitgenommen hatte. Eine Sekretärin flog raus, weil sie in ihrer Firma zwei halbe Brötchen und eine Frikadelle vom Büfett genommen hatte. Eine Oberhausener Metallfirma entließ einen Mitarbeiter, weil er sein Handy am Arbeitsplatz aufgeladen hatte. Und in Hannover verlor eine schwerbehinderte Pflegehelferin ihren Job, weil sie eine Portion Teewurst aus der Heimküche gegessen hatte.

Bislang hatte sich das Bundesarbeitsgericht hart gezeigt. Seit 1984, als eine Mitarbeiterin einer Bäckerei ihren Job verlor, weil sie Bienenstich gegessen hatte, der ohnehin weggeworfen worden wäre. Eine Kündigung war seitdem zulässig, egal wie hoch der Wert des Diebstahls war. Dass es überwiegend Ältere traf, blieb unberücksichtigt. Kleinste Delikte reichten aus, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden. Als Emmely am Donnerstag um 11.50 Uhr den Erfurter Gerichtssaal betritt, brandet Applaus auf. Der Saal ist überfüllt, das Gericht musste Einlasskarten vergeben. Ihre Sympathisanten haben das "Solidaritätskomitee Emmely" gegründet, Diskussionsforen organisiert, es sind einige schräge Vögel aus der kommunistischen Ecke darunter. Sie haben Mahnwachen vor Kaiser's-Filialen gehalten, zum Boykott aufgerufen. Solidaritätsadressen sind aus aller Welt eingetroffen, Emmely wirkt völlig überfordert. Die Rollen im Gerichtssaal sind verteilt: hier die verschüchterte Emmely mit ihrem rührigen Anwalt Benedikt Hopmann, auf der anderen Seite die Kaiser's Tengelmann GmbH in Gestalt eines Regionalmanagers und der eloquenten Anwältin Karin Schindler-Abbes.

Supermarkt hat "existenzielle Betroffenheit" nicht berücksichtigt

Benedikt Hopmann zitiert das Grundgesetz, Artikel 12, Schutz des Arbeitsplatzes. Er sagt, dass Kaiser's die "existenzielle Betroffenheit" Emmelys nicht berücksichtigt habe: dass der Verlust des Jobs für die damals 50-Jährige automatisch ein Leben mit Hartz IV, gesellschaftliche Geringschätzung und mangelndes Selbstwertgefühl bedeuten würde. "Und so ist es ja gekommen", sagt er. Emmely musste in eine kleinere Wohnung ziehen, darauf bestand die Arbeitsagentur, einen neuen Job hat sie nicht. Hopmann sagt: "Eine Abmahnung hätte ausgereicht."

Dann ist die Kaiser's Tengelmann GmbH dran. Anwältin Schindler-Abbes sagt, dass Emmely damals gelogen hat. Dass sie erst eine Kollegin beschuldigt habe, ihr die Bons zugesteckt zu haben. Und dass sie dann, als ihre Schuld feststand, von einem "Missverständnis" gesprochen habe. "Durch eine Abmahnung lässt sich Vertrauen nicht wiederherstellen", sagt die Rechtsanwältin. Sie geht siegessicher in die Mittagspause.

Doch um kurz vor halb vier verkündet der Vorsitzende Richter Burghard Kreft Emmelys Sieg: Ihr ungeschicktes Verhalten während des Prozesses befindet Kreft als "nicht ausschlaggebend". Sie hat gelogen, das steht fest. Aber vielleicht war es auch die neue Rolle, die sie dazu gebracht hat. Wer weiß.

Ausschlaggebend findet Kreft vielmehr Emmelys lange Betriebszugehörigkeit. Er spricht von einem "großen Vorrat an Vertrauen, den sich die Klägerin erarbeitet hat". Dieses Vertrauen könne durch den Pfandbonfall "nicht vollständig zerstört werden". Eine Abmahnung hätte für die "erhebliche Pflichtverletzung" ausgereicht. Auch auf die "geringfügige wirtschaftliche Schädigung" geht das Gericht ein. Ab sofort hat Emmely wieder Recht auf ihren Arbeitsplatz.

Einen Strafkatalog für Bagatell-Fälle entwickelt das Bundesarbeitsgericht nicht. Jeder Fall ist ein Sonderfall, so lautet die Botschaft, es gibt keinen Automatismus. Die Gerichte müssen Vertrauensbeschädigung des Arbeitgebers gegen soziale Folgen des Arbeitnehmers abwägen. Aber: Eine fristlose Kündigung ist auch dann gerechtfertigt, wenn der Schaden gering ist.

Emmelys Anhänger jubeln nach der Urteilsverkündung. Emmely lächelt. Irgendeiner verpasst ihr ein T-Shirt: "Solidarität macht stark" steht darauf. Gewerkschaftsfunktionäre und Linkspartei-Politiker suchen die Nähe von Emmely und sprechen wichtige Worte.

Ihr Anwalt Hopmann sagt: "Der Kampf lohnt sich. Nach diesem Urteil werden alle Bagatell-Fälle nach der Verhältnismäßigkeit bewertet."Emmely sagt: "Das ist ein Sieg für alle." Das, was da grad um sie herum passiert, kann sie irgendwie nicht so recht begreifen. Eine Party soll stattfinden, und eine Demo in der Erfurter Innenstadt, zwei Komitee-Freunde greifen zur Fidel und singen: "Der Tag is' heute schön, dieser Scheiß-Prozess is' endlich vorbei!"

Ob sie jetzt wieder bei Kaiser's arbeiten will? Ja, warum nicht, sagt sie. Sie will doch nur wieder an ihre Kasse. Mehr nicht.