Wachstum allein ist ein Auslaufmodell. Die Welt braucht eine ökologisch und sozial orientierte Ökonomie. Ein visionärer Aufruf von Jakob von Uexküll.

Es sind Geschichten, die unseren Visionen und Werten Kraft verleihen und die unseren Willen zum Handeln bestimmen. Die Geschichte, die uns heute noch beherrscht, erzählt davon, dass wir ohne Wirtschaftswachstum nicht überleben können. Unsere globale Ordnung beruht auf dem Glauben, dass der Wohlstand früher oder später unweigerlich bis zu den Ärmsten durchsickern werde. Uns Menschen beschreibt dieses Glaubenssystem als selbstsüchtig und tendenziell verantwortungslos; allein das Streben nach materiellem Wohlstand treibe uns an; und nur der Markt könne - wie von Geisterhand - den Kampf eines jeden gegen jeden zum größten Nutzen aller schlichten.

Doch diese Geschichte hat sich als Posse entlarvt. Der Markt ist zwar ein guter Diener, aber ein schlechter Meister. Die Herrschaft okkulten Finanzexpertenwissens hat die Weltwirtschaft ins Chaos gestürzt, Millionen Arbeitsplätze vernichtet und die globale Armut weiter verschärft. Beim Versuch, in der Finanzkrise die heimische Produktion zu sichern, werden die deutschen Verbraucher mit einer Abwrackprämie dafür belohnt, dass sie Werte zerstören und ihre Autos verschrotten. Soziale Sicherheit und die Verantwortung, unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu übergeben, können wir uns nicht mehr leisten, denn sie gefährden Arbeitsplätze.

Klimawandel bedroht den Wohlstand

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist allerdings bei Weitem nicht unsere größte Bedrohung. Fast alle wissenschaftlichen Studien kommen heute zum Ergebnis, dass sich der Klimawandel rapide beschleunigt und wir seine Kosten noch immer unter- statt überschätzen. Er bedroht schon in naher Zukunft den Wohlstand und das nackte Überleben Hunderter Millionen Menschen. Noch ist es nicht zu spät, einen Klimakollaps zu verhindern - aber nur, wenn wir uns bewusst werden, dass wir unsere ökologischen Schulden nicht nachverhandeln und dass wir uns von Naturgesetzen nicht freikaufen können.

Den Staats- und Regierungschefs, die auf dem Weltklimagipfel in Kopenhagen vergeblich um die Kosten des Klimaschutzes geschachert haben, ist das offenbar noch nicht bewusst. Was für ein Widerspruch: Das Risiko einer Kettenreaktion im Finanzsektor wollen die Regierungen weltweit nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 nicht mehr eingehen und pumpen seitdem Abermilliarden in das Bankensystem. Die mathematisch exakte Eintrittswahrscheinlichkeit eines Klimakollaps können wir genauso wenig ausrechnen wie die einer Kettenreaktion unter den Banken. Aber das Risiko eines Klimachaos gehen die Regierungen weltweit ein. Wie erklären wir unseren Enkeln diese Prioritäten?

System verursacht hohe ökologische Kosten

Dabei tut sich eine Kluft zwischen dem Handeln unserer politischen Führung und dem Empfinden von immer mehr Menschen auf, die andere Werte und Freiheitsbegriffe haben als die des Marktes. Die menschlichen, sozialen und ökologischen Kosten der Marktherrschaft sind ihnen zu hoch geworden. Der britische Rowntree Trust kam kürzlich in einer Studie zu erstaunlichen Ergebnissen: Die Mehrheit der Befragten könnte gut mit weniger Arbeit und Konsum leben, wenn sie dafür weniger Druck und Stress ausgesetzt wären. Sie wollen nicht zurück zur staatlichen Planwirtschaft, aber sie haben andere Ziele und Prioritäten als die des globalen Konsumenten.

Es ist jedoch schwierig, schrieb der Begründer der Transpersonellen Psychologie Abraham Maslow, Werte wie Großzügigkeit, Liebe und Mitmenschlichkeit in einer Gesellschaft zu leben, deren Regeln und Informationsströme auf die Förderung geringerer menschlicher Eigenschaften ausgerichtet sind.

Das Hauptproblem heute ist daher keine der großen globalen Krisen, sondern, dass wir diese nicht lösen, obwohl wir das Wissen, die Arbeitskraft und die Mittel dazu haben. Warum? Was hält uns zurück? Die Antwort ist eindeutig: Der feste Glaube, dass es nicht ausreichen wird, weil die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft nicht mitziehen werden.

Die politische Elite glaubt noch immer an die Wunderheilkräfte des Marktes bei der Lösung unserer globalen Herausforderungen. Oder sie hat den Mut noch nicht gefasst, sich den marktradikalen Fundamentalisten entgegenzustemmen, die jede Reform am Finanzsystem mit der Warnung vor Wachstumsbremsen kontern. Aber dass der Wettbewerb immer wieder technologische Innovationen hervorgebracht hat, vom Container bis zum Computer, vom Internet bis zum Satellit, ist kein Beweis dafür, dass es auch diesmal gelingt - und zwar rechtzeitig, um Klimachaos und Rohstoffkrise abzuwenden. Darauf kann man wetten; wissen kann man es nicht.

Spielregeln des Marktes müssen geändert werden

Henry Ford sagte einst: "Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: 'Ein schnelleres Pferd!'" Die Märkte gehorchen gesetzlichen Regeln, die wir ihnen geben. Die bis heute gültigen Regeln haben die jüngsten Blasen an den Finanzmärkten genauso gefördert wie die ungebremste Ausbeutung fossiler Ressourcen und den Klimawandel. Es ist an uns, die Spielregeln zu ändern. Wie der Ökonom Friedrich von Hayek bemerkte, gibt es keine rein wirtschaftlichen Ziele. Alle Ziele sind politisch. Wir haben die Wahl, entweder weiter mit kleinen Reformen "business as usual" zu betreiben - und vielleicht dabei noch reicher zu werden, wie ein erfolgreicher Pokerspieler auf der sinkenden "Titanic". Oder wir können die Zukunft ernst nehmen und jetzt umsteuern.

Die Alternative ist der Kollaps unserer Zivilisation; immer mehr Menschen werden auf einem zunehmend feindlichen Planeten um immer weniger Ressourcen kämpfen.

Täglich sterben rund 50 000 Menschen an Armut

Die Armen werden realisieren, dass der Wohlstand, den wir ihnen versprochen haben, wenn sie nur unserem Weg folgen, eine Lüge ist. Warum sollten sie noch länger für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung warten, wenn der Kuchen nicht mehr größer wird? Rund 50 000 unserer Mitmenschen sterben schon heute Tag für Tag aus bitterer Armut und an heilbaren Krankheiten, obwohl die Welt noch immer genug hergibt, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Mit unserer Art zu wirtschaften, scheitern wir 50 000-mal am Tag.

Befreien wir uns von den Dogmen des ökonomischen Fundamentalismus! Die globalen Klimaverhandlungen stocken, weil angeblich das Geld für einen effektiven Klimaschutz fehlt. Aber ergibt es einen Sinn, dass Regierungen sich das Geld zum Schutz unserer Zukunft verzinst von Banken leihen müssen, die das Geld durch die Vergabe von Krediten selbst schöpfen? Und die wir als Bürger gerade vor dem Bankrott bewahrt haben? Ergibt es wirklich einen Sinn, dass Notenbanken weltweit Geld drucken, um die Liquiditätsnot von Banken und Wirtschaft zu lindern - und gleichzeitig der Klimaschutz an Liquiditätsproblemen scheitert?

Weit mehr als eine Billion Dollar hat allein die amerikanische Zentralbank Federal Reserve ins Bankensystem gepumpt. Bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen ging es um eine ähnliche Größenordnung zur Finanzierung des Klimaschutzes in den ärmeren Ländern. Warum schieben Notenbanken und Regierungen Geld in die Bilanzen der Banken - und nicht in den Schutz unserer gemeinsamen Zukunft?

Unsere Kinder haben eine bessere Welt verdient

Unsere neue Geschichte, die unseren Visionen und Werten Kraft gibt, wird mit vielen Vorurteilen und Dogmen brechen. Sie wird Wirtschaft und Geld neu denken. Die Basis unseren Handelns und Wirtschaftens wird jener Wert sein, der allen Menschen gemeinsam war und ist: die tief gefühlte Verpflichtung, unseren Kindern und ihren Kindern eine bessere Welt zu übergeben. Unsere Vorfahren kannten entsprechende Institutionen, wie die "Räte der Seher in die Zukunft" in Indien, um die Interessen kommender Generationen bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen; so galt es als Kapitalverbrechen, Trinkwasser zu verunreinigen.

In unserer neuen Geschichte werden soziale Sicherheit und ökologische Verantwortung keine Arbeitsplätze mehr bedrohen, sondern die Basis allen Wirtschaftens sein. Wir werden die Marktkräfte so lenken, dass nicht mehr die maximale kurzfristige Rendite das Maß aller Dinge ist, sondern sich Verantwortung und Vorsorge lohnen. Die Schaffung von Lebensqualität mit weniger Energie und Ressourcen muss unser Ziel sein. Wir brauchen ein Wirtschaften auf Basis von Reife und Zusammenarbeit, nicht Unreife und Gier. Nicht maximaler Produktbesitz, sondern optimierte Dienstleistungen werden die Kriterien des ethischen Verbrauchens sein.

Unsere neue Geschichte wird von einer Erdgemeinschaft von Weltbürgern erzählen, einer Gemeinschaft auf der Basis des Teilens von besten Lösungen und Technologien, Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit. Es wird eine Geschichte sein, in der Menschen mehr sind als rücksichtslose Egoisten; in der Wirtschaftsführer nicht mehr mit dem Hundertfachen eines Arbeitergehalts geködert werden müssen, sondern ihren Verdienst vor allem in schöpferischer Erfüllung sehen und in der Freiheit, Verantwortung übernehmen zu dürfen. Es wird die Geschichte über eine Wirtschaft sein, die dem Menschen dient.