Jedes dritte Ei, das weltweit gegessen wird, kommt von der Nordseeküste. Es ist ein lukratives, aber auch ein blutiges Geschäft.

Cuxhaven. Die fahle Novembersonne will gerade untergehen, als im Niemandsland zwischen Cuxhaven und Bremerhaven das Leben erwacht. Wer vor dem unscheinbaren, länglichen Gebäude steht, würde niemals vermuten, was drinnen vor sich geht. Und nur eine Handvoll Menschen wird die Vorgänge in der Brüterei je miterleben. Wer hier Eintritt erhält, muss geduscht haben, muss Handy und Schmuck abgelegt, sterile Schutzkleidung angezogen und eine Stuhlprobe abgegeben haben.

Hygiene ist das oberste Gebot, wenn die Küken, das wichtigste Produkt der Firma Lohmann Tierzucht, zu Tausenden aus ihren Eierschalen kriechen. Noch an diesem Abend sollen 8000 weibliche und 1200 männliche einen Tag alte Küken ihre Reise nach Aserbaidschan antreten. Dort werden sie sich vermehren, aus ihren Eiern werden hochleistungsfähige Legehennen schlüpfen, die pro Tag 0,9 Eier legen können - statistisch gesehen. Vor 50 Jahren, als Lohmann mit der Zucht begann, produzierten die Hennen nur alle zwei Tage ein Ei.

Diese Steigerung der Legeleistung ist nur eine der Errungenschaften, auf die Lohmann Tierzucht stolz ist. Das Unternehmen ist ebenso unauffällig wie seine Brütereien, seine Hühnerställe, seine Labore, die zum großen Teil im Landkreis Cuxhaven, aber auch bei Berlin, in Dänemark, Holland, Kanada, Brasilien und den USA liegen. Lohmann Tierzucht ist einer jener "hidden champions", der überaus erfolgreichen Mittelständler, nach denen kaum ein Hahn kräht. Außer in ihrer Branche, wo sie Spitzenreiter sind. "Jedes dritte Ei, das weltweit gegessen wird, hat seinen Ursprung bei uns in Cuxhaven", sagt Geschäftsführer Hans-Friedrich Finck. Lohmann Tierzucht ist bei Legehennen Weltmarktführer, in Deutschland liegt der Marktanteil sogar bei 70 Prozent. Mit nur 300 Mitarbeitern weltweit beliefert das norddeutsche Unternehmen Kunden in 100 Ländern mit Elterntieren. Und kaum jemand, der die unscheinbare Brüterei im Niemandsland zwischen Cuxhaven und Bremerhaven sieht, weiß das.

Vermutlich soll auch niemand allzu genau wissen, was in dem nüchternen Gebäude passiert. Noch liegt die Brut in speziellen Schränken, bei exakt 37,2 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 55 Prozent, regelmäßig gewendet, behütet wie das sprichwörtliche rohe Ei. Nach 21 Tagen im Brutschrank ist die Zeit zum Schlüpfen gekommen. Wenn die Sonne untergegangen ist, werden alle Küken für Aserbaidschan das grelle Neonlicht der Brüterei erblickt haben. Drei Beschäftigte mit Mundschutz und steriler Schutzkleidung, desinfiziert und auf Krankheiten getestet, werden die flauschigen Tierchen sortieren. Vom Hahn im Korb kann hier keine Rede sein: Die Weibchen dürfen in der fernen Kaukasusregion rund 15 Monate leben, in denen sie Küken produzieren, die wiederum die erwünschten Eier legen. Ihre Brüder hingegen müssen zumeist sterben - nur wenige von ihnen werden als Erzeuger gebraucht. So landen die Hennen in einer Versandbox, die meisten männlichen Küken stürzen in den Tod. In eine Kiste, in der sie mit Gas erstickt oder mit einem Häcksler zerstückelt werden, einige von ihnen enden auch als Futtertiere in Zoos. Außenstehende werden es nicht genau erfahren.

Tierschützer gehen davon aus, dass jährlich rund 40 Millionen männliche Küken direkt nach dem Schlüpfen ihr Leben lassen müssen. Seit Langem fordern sie von der Politik, dieses "grausame und ethisch nicht vertretbare" Verfahren zu verbieten. Auch Lohmann Tierzucht würde den Tod der Hähne gern vermeiden. "Am besten wäre es, schon im Ei das Geschlecht des Kükens festzustellen", sagt Lohmann-Chef Finck. So würden die Männchen gar nicht erst bebrütet, die Firma könnte Brutplätze und damit viel Geld sparen. In einem gemeinsamen Projekt mit der Universität Leipzig forscht Lohmann Tierzucht deshalb an der Pränataldiagnostik. Noch sind das allerdings ungelegte Eier. "Es ist nicht absehbar, wann die Techniken einsetzbar und wirtschaftlich darstellbar sind." Bezahlbar, meint er damit. Auch die Idee, die Hähnchen zu mästen und als Stubenküken, eine norddeutsche Spezialität, zu verzehren, ist schwierig umzusetzen: Das moderne Huhn ist entweder auf Zucht oder Mast spezialisiert, beides zu vereinen ist ein bislang unerfüllbarer Anspruch an die Forschungslabore der Geflügelbranche. Selbst beim Deutschen Tierschutzbund heißt es deshalb, eine "vollständige Verwertung dieser Tiere erscheint derzeit nicht durchführbar".

Nicht nur wegen der Kükenfrage spielt die Forschung bei Lohmann eine tragende Rolle. Die Cuxhavener investieren zehn Prozent ihres Jahresumsatzes, um ihre Zuchtlinien zu verbessern. Denn die Legehennen gleichen sich keineswegs wie ein Ei dem anderen. "Die Ansprüche an Hühner sind von Land zu Land verschieden", sagt Finck. "Eier sind ein hochgradig spezialisiertes Geschäft." Die Deutschen etwa wollen Hühner, die friedlich in Freilandhaltung leben und Eier in einem gesunden Braun legen können. Skandinavier lieben ihr Frühstücksei in weiß, auf dem indischen Markt sind XS-Eier aus Käfighaltung gefragt. Mit Zuchtlinien wie "Braun", "Tradition", "Classic" oder "Extra" kann Lohmann flexibel auf Kundenwünsche reagieren. "Wir können unsere Zuchtlinien so kreuzen, dass wir für jede Haltung das richtige Huhn und für jeden Markt das richtige Ei erzeugen", sagt Hans-Friedrich Finck. Die Investitionen in die Forschung zahlen sich aus: Im vergangenen Jahrzehnt konnte Lohmann Tierzucht seine Elterntierverkäufe mehr als verdoppeln.

Welches Huhn für welchen Markt geeignet ist, überprüfen Genetikerin Wiebke Icken und ihre Kollegen im Labor. Hierher, an den Stadtrand von Cuxhaven, neben Windrädern und abgemähten Feldern, liefern Lohmanns diversen Hühnerfarmen regelmäßig Eier für den Qualitätstest. "So finden wir heraus, welche Kreuzungspaarungen welche Ergebnisse bringen." Jedes Ei, das Wiebke Icken aus dem Pappkarton nimmt, trägt einen Aufkleber mit einer Identifikationsnummer. Die Wissenschaftlerin hält ein Prüfgerät an ein braunes Ei, das die Helligkeit der Schale, Rot- und Blautönung misst. "Die Schalenfarbe ist ein wichtiges Verkaufsargument", erklärt sie. Ebenso die Bruchfestigkeit, die mit einem sogenannten Crack-Detector, einem auf die Schale schlagenden Hammer, der die Schwingungen aufzeichnet, gemessen wird. Auch Gewicht und Form des Eis werden festgehalten, bevor ein Bruchfestigkeitsgerät es zertrümmern darf. "Dieses hier hat 60 Newton ausgehalten, ein sehr festes Ei", lobt Icken. Die Qualität der Eier ist besonders wichtig für das zweite Standbein von Lohmann Tierzucht, den Verkauf von Impfstoffeiern. Damit stellen Lohmann-Veterinäre eigene Impfstoffe für Geflügel her, die meisten gehen aber an große Pharmakonzerne wie Novartis oder GlaxoSmithKline. In Zeiten von weltweiter Grippeangst ist das ein mehr als einträgliches Geschäft: "Momentan könnten wir die doppelte Menge an Impfstoffeiern verkaufen", sagt Finck.

Über die große Brüterei im Niemandsland zwischen Cuxhaven und Bremerhaven hat sich inzwischen die Dunkelheit gelegt. Die frisch geschlüpften Küken sind nach Geschlecht sortiert, die Weibchen und einige wenige Hähne sollen um 21 Uhr mit dem Lastwagen abgeholt werden. Sie werden an ihrem Bestimmungsort Hennen das Leben schenken, die mittelgroße, weiße Eier in ihre Nester legen. Das mag man in Aserbaidschan.