Konzern machte sich mit Entlassungen Feinde. Nun produzieren Ex-Mitarbeiter das Spitzenprodukt der Konkurrenz.

Hamburg/Bochum. Die Wut der deutschen Nokianer schaffte es sogar ins Vorabendprogramm der ARD. Kurzfristig aktualisierten die Produzenten der Serie "Lindenstraße" Folge 1156 und ließen eine ihrer Figuren ein Nokia-Handy zurück nach Bochum schicken. Dort hatte wenige Tage zuvor, am 15. Januar 2008, die Werksleitung den 2300 Beschäftigten mitgeteilt, dass ihre Arbeitsplätze trotz Rekordgewinnen nach Rumänien verlagert werden. Politiker brandmarkten den finnischen Weltkonzern als "Subventionsheuschrecke", ungezählte Nokia-Telefone landeten in knallroten Mülltonnen vor den Fabriktoren, Gewerkschafter riefen zum Boykott auf.

Die bösen Wünsche vieler Bochumer haben sich knapp zwei Jahre später erfüllt. Erst kürzlich schockte der weltgrößte Handyhersteller die Branche mit den ersten roten Quartalszahlen seit 16 Jahren. Der Verlust von 913 Millionen Euro lag zwar vorrangig an den schlechten Geschäften des gemeinsamen Netzausrüsters mit dem deutschen Technikkonzern Siemens. Als beunruhigend schätzen Experten aber die Entwicklung im Kerngeschäft mit Mobiltelefonen ein: Von einem Boykott der Handy-Käufer, von dem viele Bochumer träumten, kann angesichts von 108,5 Millionen im dritten Quartal abgesetzten Exemplaren zwar keine Rede sein - immer noch ist jedes dritte weltweit verkaufte Mobiltelefon von Nokia. Aber bei den hochpreisigen Smartphones fiel der Weltmarktanteil der Finnen von 41 Prozent im zweiten Quartal auf jetzt 35 Prozent. Die ausgefeilten Multimediahandys zum E-Mail schreiben, im Internet surfen, Musik abspielen, filmen und navigieren sind derzeit die Hoffnungsträger in einem rückläufigen Gesamtmarkt mit ständig sinkenden Handypreisen und Absatzzahlen.

Dass Nokia immer weniger dieser mobilen Alleskönner verkauft, schiebt Vorstandschef Olli-Pekka Kallasvuo auf Lieferprobleme bei Bauteilen. Branchenkenner verweisen hingegen auf die wachsende Konkurrenz durch Apples iPhone, den Blackberry von Research in Motion (RIM) und die rasch steigende Zahl von Handys mit dem Google-Betriebssystem Android. "Im Markt tobt ein extremer Machtkampf", sagt Jürgen Funke, Telekommunikationsexperte beim IT-Dienstleister syngenio. "Gerade Apple ist ein extrem innovativer Hersteller, der sich stark am Nutzer orientiert." Das honorieren die Handy-Käufer:

Während Nokia im dritten Quartal 1,7 Millionen Geräte seines Smartphones N97 verkaufte, hatte Apple die Millionengrenze mit dem neuen iPhone 3GS schon nach drei Tagen geknackt.

So war es für Branchenexperten keine große Überraschung, dass Nokia wenige Tage nach Vorlage der Quartalszahlen den unliebsamen Konkurrenten aus Kalifornien verklagte. Apple habe mit seinem iPhone zehn Patente verletzt, erklärten die Finnen. "Mein erster Gedanke war: Warum kommt die Klage erst jetzt?", sagt Thomas Langer, Analyst der WestLB. "Nokia hat die Marktmacht von Apple lange unterschätzt." Er rechne nicht damit, dass der Branchenprimus Apple mit einem teuren Patentstreit bremsen kann: "Nokia ist zwar immer noch Marktführer bei den Verkaufszahlen, aber Apple hat längst die technologische Marktführerschaft übernommen."

Das will der weltgrößte Handyhersteller nicht einfach hinnehmen. Der Konzernumbau ist bereits im Gange. "In unserer Industrie verlagern sich die Umsätze gerade weg von der Hardware und hin zu Anwendungen und Diensten", sagte Nokia-Stratege Hikki Norta unlängst der "Welt am Sonntag". Ebenso wie Apple wollen die Finnen mit Applikationen, also im Internet herunterladbaren Programmen und Spielen für das Smartphone, Geld verdienen. Deshalb kauft Nokia seit Jahren Internetunternehmen wie den Berliner Navigationsspezialisten Gate5, das Hotelbewertungsportal Dopplr sowie soziale Netzwerke auf. Diese Töchter sollen es Smartphone-Nutzern ermöglichen, über digitale Navigationskarten mit anderen Usern zu kommunizieren. Auch das neue Booklet 3G, eine Art Mininotebook, das Nokia Ende August ankündigte, kommt in der Branche an. "Das ist die richtige Richtung", meint Jürgen Funke vom IT-Dienstleister syngenio. "Das könnte die Lücke zwischen dem Smartphone und einem richtigen Notebook füllen." Eine Lücke, die auch Apple bisher nicht besetzt hat, obwohl in Internetforen bereits wild über neue Produkte spekuliert wird.

Jene andere Lücke, die Nokia im gebeutelten Bochum hinterlassen hat, klafft hingegen immer noch. Mehr als 1000 der früheren Nokianer haben trotz vielfacher Fördermaßnahmen noch keinen neuen Job. Eine gewisse Genugtuung mag ihnen bereiten, dass die EU vergangene Woche beschlossen hat, sie als Globalisierungsopfer für fast 5,6 Millionen Euro umschulen zu lassen. Ein Triumph muss aber eine ganz besondere Produktvorstellung nur einen Tag später gewesen sein: Der kanadische Wettbewerber Research in Motion (RIM) präsentierte sein neues Spitzenprodukt Blackberry Bold 9700. Das Smartphone, das Nokia das Geschäft weiter erschweren soll, wurde innerhalb nur eines Jahres in Bochum entwickelt. Von Nokias früheren Ingenieuren, die RIM nach dem bitteren Abgang des finnischen Konkurrenten in einem klugen Schachzug fast alle übernommen hat.