Die Bundesrepublik Deutschland türmt seit Jahrzehnten einen Schuldenberg auf. Es fehlt an Wachstum und Ideen gegen die Krise.

Hamburg. Das Ritual lief so präzise ab wie immer, wenn Gefahr im Verzug ist. Der Sparbrief, den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) am Donnerstag seinen Kabinettskollegen zustellen ließ, hatte sein Ministerium kaum verlassen, da standen die Adressaten schon vor den Fernsehkameras und erklärten, warum Verzicht ausgerechnet in ihren Ressorts keine gute Idee sei. "Wir dürfen nicht an der falschen Stelle sparen", sagte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). Ein Satz mit hohem Wiederverwendungswert für alle, die sich gegen Schäubles Offensive stemmen werden.

Der Finanzminister muss das Haushaltsdefizit des Bundes deutlich reduzieren, gezwungen auch durch die sogenannte Schuldenbremse, die - im Grundgesetz verankert - für die Zukunft im Prinzip ausgeglichene Haushalte von Bund und Ländern vorschreibt. Doch schon jene relativ niedrigen Beträge, die Schäuble in seiner neuen Streichliste aufführt, lösen hektische Abwehrreaktionen aus.

Seit dem Beginn der Finanzmarktkrise im Jahr 2008 hetzt die Bundesregierung von einem Brandherd zum nächsten. Kaum sind die Banken stabilisiert, drohen ganze Staaten wie Griechenland unter dem Druck ihrer Schulden zu kippen. Über einen Befreiungsschlag aus der Falle der wachsenden Staatsschulden und der Zinsdienste, über Ideen für eine Modernisierung von Staat und Wirtschaft werden hierzulande längst keine ernsthaften Debatten mehr geführt. Ob und wie die Deutschen ihren Wohlstand in absehbarer Zukunft zumindest halten können, ist so ungewiss wie nie seit Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949. Wachsender materieller Reichtum steht für die Breite der Bevölkerung ohnehin nicht mehr auf der Agenda. "Deutschland wurde jahrzehntelang über seine Verhältnisse regiert. Der Staat hat Leistungsversprechen abgegeben, die nicht zu halten sind", sagt Claus Vogt, Chefanalyst der Quirin Bank.

Die Spielräume werden immer enger. Seit 1950 steigen die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland Jahr für Jahr unerbittlich weiter. Rund 1800 Milliarden Euro werden es am Ende dieses Jahres nach Schätzung des Bundes der Steuerzahler sein. Allein der Bund, dessen Haushalt 2010 rund 320 Milliarden Euro umfasst, muss dafür in diesem Jahr rund 39 Milliarden Euro Zinsen zahlen. Der Schuldendienst ist der zweitgrößte Posten im Etat nach dem des Ministeriums für Arbeit und Soziales, das die Arbeitslosigkeit in Deutschland finanziell puffert.

Wie dramatisch die Schuldenlage der meisten westlichen Industrieländer und Japans ist, zeigt eine neue Analyse der Schweizer Business School IMD. Deutschland oder Großbritannien würden bis zum Jahr 2028 benötigen, um bei einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum der vergangenen zehn Jahre ihre Schulden zu tilgen. IMD untersuchte aber nicht etwa eine komplette Rückzahlung der Verbindlichkeiten, sondern lediglich eine Senkung auf 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Griechenland könnte dieses Ziel aus heutiger Sicht im Jahr 2031 erreichen. Bei Japan würde es laut IMD bis zum Jahr 2084 dauern. "Verschuldete Staaten wie Deutschland stecken in einem wirtschaftlichen Teufelskreis", sagt der Hamburger Wirtschaftsprofessor Karl-Werner Hansmann. "Je mehr der Staat spart, desto stärker belastet das auch die öffentliche und die private Nachfrage."

Der private Konsum aber ist in Deutschland ohnehin keine Triebfeder für einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung mehr. Viele Teilmärkte, etwa das Automobilgeschäft, sind längst gesättigt, die Mehrzahl der Arbeitnehmer bezieht sinkende Reallöhne. Das Thema Steuersenkungen ist vom Tisch. Angesichts der anhaltenden Finanzmarktkrise drohen womöglich bald Steuererhöhungen. Rhetorisch wird der Weg schon bereitet. "Wenn wir die Vorgabe der Schuldenbremse auf der Ausgabenseite nicht erfüllen können, wäre es notwendig, neue Einnahmemöglichkeiten durch Steuererhöhungen zu erschließen", sagte Saarlands Ministerpräsident Peter Müller (CDU) am Freitag.

Wenn der Binnenmarkt keine neue Vitalität entfaltet, kommt es umso mehr auf den Export an. Deutschland ist zwar, abgelöst von China, nicht mehr "Exportweltmeister". Doch deutsche Produkte genießen in aller Welt höchste Wertschätzung. "Durch unsere starke Exportwirtschaft sind wir in einer besseren Lage als viele andere Staaten in Europa", sagt Professor Hansmann. "Der nächste Exportboom kommt."

Selbst mit einer Top-Exportleistung erzielte Deutschland in den vergangenen Jahren jedoch nicht mehr als zwei bis drei Prozent Wirtschaftswachstum. Reicht das aus, um die Schuldenlast des Staates zu senken? "Bei einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent und einer ebenso hohen Inflation wären die staatlichen Schulen innerhalb von 17 Jahren halbiert", sagt der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Professor Werner Abelshauser. "Es darf allerdings nichts dazwischenkommen."

Dazwischen könnten allerdings nicht nur die nächsten Wellen der Finanzmarktkrise kommen, sondern auch aufstrebende Wirtschaftsmächte in Asien. Neue Technologien zur Energieversorgung wie Windkraft und Solarstromanlagen, aber auch der Markt der Elektroautos versprechen künftige Wachstumsschübe. Deutschland bietet bei vielen dieser zukunftsträchtigen Technologien beste Qualität - doch die Konkurrenz vor allem aus China holt auf. Bei Solarstromanlagen verdrängen chinesische Hersteller wie Yingli oder Suntech jetzt bereits die deutschen Hersteller, nur wenige Jahre nach dem Einstieg der Chinesen in dieses Geschäftsfeld. Auch bei der Elektromobilität drängen chinesische Unternehmen auf breiter Front an den Markt.

Aus Sicht des Hamburger Gesellschafts- und Trendforschers Horst W. Opaschowski ist materiell getriebenes Wirtschaftswachstum kein Zukunftsmodell für ein hoch entwickeltes Land wie Deutschland. "Das Wirtschaftswachstum, das Deutschland erzielt, reicht längst nicht mehr aus, um die Staatsschulden zu reduzieren. Materielles Wachstum bedeutet aber auch längst nicht mehr, dass die Menschen daraus mehr Wohlstand und Wohlbefinden ziehen", sagt er. "Wir müssen umdenken und Wachstum wesentlich mehr in Bildung, in kulturellen Leistungen suchen. Eine riesige Chance für soziale Entwicklung wie auch für wirtschaftliches Wachstum sehe ich zudem in den Beziehungen zwischen den Generationen - gemeinsames Wohnen, gegenseitige Unterstützung, die Weitergabe von Erfahrungen durch Alt an Jung."

Ähnlich argumentiert der Jenaer Soziologieprofessor Klaus Dörre: "Das Bruttoinlandsprodukt taugt schon lange nicht mehr als Indikator für Wachstum und schon gar nicht für Wohlstand. Wir müssen den Umbau zu einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft vorantreiben. Die ökologische und die soziale Frage sind dabei eng miteinander verknüpft", sagt er. "Humandienstleistungen" wie etwa die Pflegeberufe müssten gesellschaftlich aufgewertet, die Verdienstmöglichkeiten zum Beispiel von Krankenschwestern "dramatisch verbessert" werden. "Wenn der Staat investiert", sagt Dörre, "dann sollte er dies künftig in einen grundlegenden Umbau unserer Wirtschaft tun."