Experten sagen im Abendblatt für 2010 bis zu zwei Prozent Wachstum voraus - aber auch mehr Arbeitslose und höheres Staatsdefizit.

Hamburg. Vor 18 Monaten war ein Absturz der deutschen Wirtschaft um fünf Prozent für Rolf Kroker noch undenkbar. "Niemand konnte sich das damals vorstellen", sagt der Konjunkturexperte vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war auf Wachstum programmiert. 2006 hatte es um 3,2 Prozent, 2007 um 2,5 Prozent zugelegt - und auch im ersten Halbjahr 2008 lief die Wirtschaft auf hohen Touren. Dann meldete im September die US-Investmentbank Lehman Insolvenz an. "Und plötzlich ging alles ganz schnell", sagt Kroker. Zunächst verloren die Akteure auf den Finanzmärkten das Vertrauen in die Kraft der Ökonomie, dann sprang das gefährliche Virus auf die Unternehmen über. Kroker spricht von einer "Misstrauensinfektion". Die Firmen stornierten Aufträge und fuhren Kapazitäten zurück. Weltweit. Und am Ende des Jahres 2009 standen in Deutschland dramatische Produktionsrückgänge, ein Exporteinbruch um real fast 15 Prozent und eben ein Rückgang des BIP um fünf Prozent. Die stärkste Rezession der Nachkriegszeit war innerhalb weniger Monate Realität geworden.

Zaghafter Aufschwung

Doch für 2010 geben sich Politik und Ökonomen verhalten optimistisch. Die Bundesregierung hat nach Abendblatt-Informationen ihre Prognose für das BIP von 1,2 auf 1,5 Prozent angehoben. Diesen Wert erwarten auch die Wissenschaftler im Schnitt.

Nach Meinung von IW-Experte Kroker dürfte der zaghafte Aufschwung vor allem vom Export und hohen staatlichen Konsumausgaben getragen werden. Der Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Joachim Scheide, prognostiziert ein Wachstum von 1,2 Prozent, warnt aber: "Die Krise liegt noch nicht komplett hinter uns." Das habe der schwache Winter 2009 nochmals gezeigt. Dagegen glaubt der Chefvolkswirt der Allianz, Michael Heise, beim Wachstum sogar an "eine zwei vor dem Komma". Wie Kroker setzt Heise auf "die Kraft des Exports".

Mehr Arbeitslose

Blickt man auf die offiziellen Arbeitslosenstatistiken, ist der Arbeitsmarkt 2009 von der schweren Wirtschaftskrise nahezu verschont geblieben. Im Jahresschnitt wies die Agentur für Arbeit 3,42 Millionen Erwerbslose aus, 2008 waren es 3,27 Millionen gewesen. Zu dieser insgesamt positiven Entwicklung hat nach Meinung von Ökonomen nicht nur das Instrument der Kurzarbeit beigetragen. "Die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen war zu Beginn des Jahres 2009 extrem gut, die Eigenkapitalausstattung hoch", sagt Kroker. Zudem haben die meisten Firmen aus früheren Krisen gelernt und wollten ihre qualifizierten Arbeitnehmer unbedingt halten. "Denn nach einer Rezession gutes Personal zu finden, ist extrem schwierig." Allerdings sind sich die Ökonomen einig, dass das laufende Jahr nicht so glimpflich für den Arbeitsmarkt ablaufen wird. Kroker sieht einen Anstieg der Erwerbslosen im Jahresschnitt um 600 000 auf gut vier Millionen. Sein Kollege Scheide vom IfW nennt 400 000 eine realistische Größe: "Das teure Instrument der Kurzarbeit lässt sich auf Dauer nicht finanzieren." Und Kroker spricht von vielen Unternehmen, denen nun langsam aber sicher das Geld ausgehe, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Die mögliche Folge: Ein deutlicher Anstieg der Insolvenzen.

Noch mehr Schulden

Ausgaben für Kurzarbeit, die Rettung angeschlagener Banken und Subventionen von 29,5 Milliarden Euro (plus sechs Milliarden) unter anderem in Form der Abwrackprämie hielten zwar die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt in Grenzen, ließen aber zugleich die Neuverschuldung nach oben schnellen. Sie stieg nach aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 2009 mit 77,2 Milliarden Euro auf 3,2 Prozent des BIP.

Damit hat Deutschland erstmals seit vier Jahren wieder gegen die Defizitkriterien aus dem Maastricht-Vertrag verstoßen. Und die Ökonomen sind sich weitgehend einig, dass das Haushaltsdefizit noch weiter wachsen wird. Fünf Prozent des BIP gelten als realistische Größe. IfW-Konjunkturchef Scheide spricht von "Fehlentscheidungen der Politik". Im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes sei "viel Geld verpulvert" worden. Konkret nennt Scheide die Erhöhung des Kindergeldes und die Steuererleichterungen für Hotels. Aus seiner Sicht müssten die Subventionen deutlich zurückgefahren und die Investitionen vor allem in Bildung erhöht werden. IW-Experte Kroker nennt 2011 "das Jahr der Konsolidierung". Dann müsse der Staat die Ausgaben kräftig zurückfahren, will er die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse 2016 tatsächlich schaffen. Ab dann darf der Bund pro Jahr nur noch neue Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des BIP aufnehmen.

Sorgen bei den Nachbarn

Im Vergleich zu den meisten anderen Euro-Ländern fällt die Neuverschuldung in Deutschland noch gering aus. So werden die Haushaltsdefizite in Griechenland, Spanien und Irland 2009 bei mehr als zehn Prozent des BIP liegen. Kroker spricht von einer "schwierigen Situation". Er geht aber davon aus, dass die Euro-Zone deshalb nicht auseinander brechen wird. "Das ist laut Vertrag auch gar nicht möglich", sagt der IW-Experte. Der Spardruck auf die Defizitsünder müsse dennoch hoch gehalten werden. Dem pflichtet sein Kollege Scheide vom IfW bei: "Man sollte diesen Ländern keinesfalls das Gefühl geben, dass die anderen Staaten im Notfall zur Hilfe eilen. Die Konsolidierung der Haushalte muss durchgezogen werden."