Berlin. Lipödem ist eine Krankheit, gegen die weder Sport noch Diät hilft. Ärzte erkennen sie oft nicht, der Leidensweg für Frauen ist lang.

Anja Dietze hatte wirklich alles versucht: Angefangen bei verschiedenen Diäten bis hin zum radikalen Hungern, und natürlich Sport, immer wieder und immer mehr, an sieben Tagen in der Woche. Sie nahm ein wenig ab, hier mal ein paar Kilo, dort ein paar, aber Arme und Beine blieben, wie sie waren: extrem füllig. Hinzu kamen die Schmerzen: „Ich konnte nicht mehr Badminton spielen, weil meine Arme bleischwer waren; ich konnte nicht mehr mit meiner Nichte spielen, weil so viele Bewegungen wehtaten“, erzählt die 26-Jährige.

Und sie merkte, was Fremde in ihr sahen: die dicke, undisziplinierte Frau, die einfach zu viel isst. „Verständlich“ sei das – aber eben nicht die Wahrheit. Die kennt Anja Dietze selbst erst seit einigen Jahren: Für die markanten Fettablagerungen ist eine Krankheit verantwortlich – das Lipödem.

Etwa acht Prozent der Frauen sind betroffen

Der Mülheimer Chirurg Dr. Falk-Christian Heck behandelt seit 15 Jahren Lipödem-Patientinnen; seit drei Jahren konzentriert er sich ausschließlich auf die Fettverteilungsstörung, die sowohl bei übergewichtigen, als auch bei schlanken Frauen auftritt. Aus ganz Deutschland und aus dem europäischen Ausland kommen Patientinnen, um sich von Heck operieren zu lassen. Viele haben jahrelange Leidenswege hinter sich – in 85 Prozent der Fälle beginnt die Krankheit bereits in der Pubertät: „Während ihre Freundinnen schöne Figuren entwickeln, bekommen die Betroffenen dicke Beine“, sagt Heck. Bei ihnen bilden sich Fettdepots an den Extremitäten, auch wenn der Rest des Körpers eher schlank ist.

Viel weiß man bis heute nicht über das Lipödem, obwohl es Schätzungen zufolge etwa acht Prozent der weiblichen Bevölkerung (allerdings so gut wie keine Männer) betrifft: „Die Krankheit wird bei Weitem nicht so intensiv beforscht, wie es nötig wäre“, sagt der leitende Oberarzt der Angiologie der Klinik für Kardiologe und Angiologie vom Westdeutschen Herz- und Gefäßzentrum des Universitätsklinikums Essen, Christos Rammos.

Hormone und genetische Veranlagung

Vermutet werden hormonelle Ursachen bei entsprechender genetischer Veranlagung. Wesentliche Merkmale der Erkrankung seien beidseitig geschwollene Beine, oft auch Arme, während der restliche Körper wie auch die Füße ausgespart blieben, erklärt Christos Rammos. „Hinzu kommt ein Spannungsgefühl sowie eine verstärkte Neigung zu Hämatomen.“

Zahlreiche Ärzte seien mit der Erkrankung leider kaum vertraut, sagen die Experten. Und so ziehen die jungen Frauen oft von einem zum nächsten, bis sie endlich, meist vom Phlebologen oder Angiologen (Fachärzte für Gefäßerkrankungen), eine Diagnose erhalten und damit auch die Möglichkeit, sich behandeln zu lassen. An erster Stelle steht dabei eine sogenannte Entstauungstherapie, also Lymphdrainage und Kompressionsbestrumpfung, was einigen Betroffenen ausreichend Linderung verschaffe, erklärt Falk-Christian Heck. „Sie bleiben aber lebenslang auf diese Form der medizinischen Behandlung angewiesen.“

Manchen hilft nur Fettabsaugung

Anderen, wie auch Anja Dietze, helfen die konservativen Methoden kaum – in diesen Fällen sei die notwendige Konsequenz eine drastische Reduktion des Fettgewebes mittels Liposuktion, also einer Fettabsaugung. Heck nennt es „eine Art kompletter Reset“. Auf diese Weise könne man die Krankheit zwar nicht heilen, denn eine Heilung des Lipödems ist bislang nicht möglich, wohl aber stoppen und die Schmerzen bekämpfen.

Drei bis vier Eingriffe im Abstand von einigen Wochen sind nötig, um Oberschenkel, Unterschenkel und Arme vom eingelagerten Fett zu befreien. Die Prozedur ist kostspielig: Etwa 5000 bis 6000 Euro kostet jeder Eingriff. Doch die Prognose sei gut, sagen Experten: Meist bricht die Krankheit nach der Liposuktion nicht wieder aus. Natürlich müssten Betroffene ebenso wie Gesunde auf ihr Gewicht achten. Was bleibt, ist die Veranlagung, die vererbt werden kann.

Sport hilft wenig gegen Lipödem

Mit klassischer Schönheitschirurgie habe der Eingriff beim Lipödem wenig zu tun, erklärt der Chirurg. Es sei nicht bloß eine Absaugung, sondern im Grunde eine komplette „Neugestaltung“ der Extremitäten erforderlich. Natürlich würden sich die betroffenen Frauen auch einen ansehnlicheren Körper wünschen, trauten sich im Beratungsgespräch aber meist gar nicht, das zu erwähnen. Zu lange haben sich viele von ihnen anhören müssen, sie sollten doch einfach mal „eine ernsthafte Diät“ machen und mehr Sport treiben. Auch er rate seinen Patientinnen zu gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung, sagt Heck.

Doch den immer weiter anschwellenden Fettdepots könnten Lipödem-Betroffene auf diese Weise kaum etwas entgegensetzen. „Wenn sie Sport treiben, nehmen sie zwar ab – nur nicht an den Stellen, die durch das Lipödem angeschwollen sind.“ Es sei mitunter schwierig, sagt auch Christos Rammos, sportlichen Patientinnen klarzumachen, dass sie die Fettdepots nicht durch noch mehr Sport reduzieren könnten.

Fettschwellungen bedeuten Schmerzen

Aber nicht nur diese ästhetische Komponente lässt viele betroffene Frauen verzweifeln – die Fettschwellungen gehen mit starken Schmerzen einher: Manche Patientinnen müssen ihren Beruf aufgeben, andere die Hobbys. Heck hat schon Models und Leistungssportlerinnen mit Lipödem operiert. Bei ihnen zeigte sich die Krankheit mit manschettenartigen Fettablagerungen an Armen oder Beinen, obwohl sie ansonsten sehr schlank waren.

Das andere Extrem: Eine Adipositas und das Lipödem kommen zusammen und bedingen sich gegenseitig. Aufgrund der zunehmenden Schmerzen bewegen sich die Patientinnen immer weniger, dadurch wiederum nehmen sie weiter an Gewicht zu. Zudem kann sich das Krankheitsbild auch infolge einer Schwangerschaft zusätzlich verschlechtern.

„Ich konnte mir nicht mehr Zopf machen“

Bei Anja Dietze bildete sich aufgrund des über viele Jahre unentdeckten Lipödems zusätzlich ein sogenanntes sekundäres Lymphödem. Vier Jahre konservative Therapie hatten keine nennenswerten Verbesserungen gebracht, die Krankheit war nicht aufzuhalten. „Ich konnte mir nicht mal mehr einen Zopf machen, so sehr schmerzten meine Arme“ erzählt Anja Dietze. Schließlich wurde der Leidensdruck so groß, dass sie sich operieren ließ. Bis heute hat sie die Entscheidung nicht bereut, obwohl sie sich das Geld für die Eingriffe leihen musste und die Auseinandersetzung mit ihrer Krankenkasse zeitweise aussichtslos schien.

Bislang nämlich entscheiden die Kassen von Fall zu Fall darüber, ob sie sich an den Kosten der Liposuktion beteiligen. Seit etwa zwei Jahren berät der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) darüber, ob die Fettabsaugung beim Lipödem unter bestimmten Auflagen eine Kassenleistung werden könnte. Ein Ergebnis wird im Frühjahr 2017 erwartet. „Die Operation hat mir unendlich viel Lebensqualität zurückgegeben“, sagt Anja Dietze. Ihre Krankenkasse lenkte in diesem Sommer schließlich ein und sagte die Übernahme von 90 Prozent der Operationskosten zu.