Essen. 150.000 Deutsche leiden unter Multipler Sklerose. Studien lassen jetzt auf neue Therapiemöglichkeiten für die Nervenkrankheit hoffen.

Sie ist auch als die „Krankheit mit den vielen Gesichtern“ bekannt: Multiple Sklerose. Diese Bezeichnung zielt zwar auf die vielfältigen Symptome, könnte aber auch dafür stehen, wie sich die Erkrankung aus Forschersicht darstellt. Erst vor wenigen Wochen konnten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie und der Technischen Universität München (TUM) der Liste mit rund 150 „MS-Risikogenen“ vier neu identifizierte Gene hinzufügen, die bei MS-Patienten Veränderungen aufweisen.

Und kurz zuvor hatten Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (UDE am Universitätsklinikum Essen) gemeinsam mit Kollegen der Universität Münster nachgewiesen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Blutgerinnungssystem und dem Entstehen von MS. So zeigt die Krankheit scheinbar ständig ein anderes Gesicht und lässt sich ihr Geheimnis nur Stück für Stück, Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen, entreißen.

MS – was ist das überhaupt?

Die Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die vor allem junge Erwachsene etwa ab 20 Jahren betrifft. In Deutschland leiden rund 150.000 Menschen unter dieser Autoimmunerkrankung, bei der es zu Abwehrreaktionen des Immunsystems gegen Teile der Nervenumhüllungen kommt. Dadurch werden Nerven geschädigt, was zu neurologischen Ausfällen, etwa Lähmungen oder Sehstörungen führt.

Klassischerweise treten Autoimmunerkrankungen häufiger bei Frauen als bei Männern auf, so auch MS, an der etwa doppelt so viele Frauen wie Männer erkranken. In den meisten Fällen verläuft die Krankheit schubweise. Das bedeutet, dass ein neurologisches Defizit für mehrere Tage oder Wochen besteht, bevor es wieder abklingt. In etwa 60 bis 80 Prozent der Fälle geht die Erkrankung bei unbehandelten Patienten nach zehn bis 15 Jahren in einen schleichenden Verlauf, die sogenannte sekundär progrediente MS, über.

Wodurch wird MS verursacht?

Obwohl man heute zahlreiche für die MS typische genetische Signaturen kennt, handelt es sich nicht um eine Erbkrankheit. Zur genetischen Komponente müsse mindestens ein Umweltfaktor hinzukommen, damit eine MS entsteht, erklärt Prof. Christoph Kleinschnitz, Leiter der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen.

So können beispielsweise bestimmte Infektionen in der Kindheit das MS-Risiko erhöhen – Wissenschaftler mutmaßen, dass dies mit einer genetischen Ähnlichkeit zwischen den Bakterien des Infektes und den Nervenfasern zusammenhängen könnte. Auch ein Vitamin-D-Mangel könne unter Umständen einen Risikofaktor darstellen, so Kleinschnitz, doch solle man dies keinesfalls überbewerten. Ebenso kommen bestimmte Lebensgewohnheiten und Ernährungsfaktoren theoretisch als Mitverursacher in Betracht. Dazu gehört das Rauchen sowie eine besonders salzreiche Kost.

„Es gibt nicht den einen Auslöser“, betont Kleinschnitz. „Vermutlich existiert ein ganzer Bausatz an Umweltfaktoren, die eine Rolle spielen.“ Neueren Erkenntnissen zufolge könnte auch das Blutgerinnungssystem an der Entstehung von MS beteiligt sein. Der Blutgerinnungsfaktor 12, der sowohl für die Blutgerinnung von Bedeutung ist, aber auch Entzündungen anstoßen und so das Immunsystem beeinflussen kann, ist bei MS-Patienten im Vergleich zu gesunden Menschen erhöht.

Welche Möglichkeiten der Therapie gibt es?

Da der Verlauf einer MS unmöglich vorherzusehen ist – manche Patienten erleiden einen starken Schub und bekommen in schneller Folge weitere, andere haben nach einem ersten Schub erst einmal keine Symptome mehr – hat sich in der Medizin heute der Ansatz durchgesetzt, so schnell wie möglich mit einer Behandlung zu beginnen.

Denn die Therapie im frühen Stadium erhöht die Chancen, dass die Krankheit nicht vom schubförmigen in den schleichenden Verlauf übergeht und verringert zudem das Risiko starker bleibender Behinderungen. Die Behandlung setzt jedoch nicht etwa bei den Risikogenen an. Dazu sei die Zahl der beteiligten Gene viel zu groß, so Kleinschnitz, und die Effektstärken der einzelnen Genveränderungen zu gering. Aus diesem Grund sei es auch kaum sinnvoll, Menschen auf die bereits als mitverantwortlich identifizierten Genveränderungen hin untersuchen zu lassen, um das Risiko einer MS im Vorfeld abzuklären.

Dennoch entwickelten sich die Therapiemöglichkeiten bei der schubförmigen Variante der MS seit einigen Jahren „hoch erfreulich“, so Kleinschnitz. Die Medizin kann heute auf eine Vielzahl geeigneter Medikamente zurückgreifen, deren Darreichungsform von Tabletten über Spritzen bis hin zu Infusionen variiert. Einige Präparate schalten sehr selektiv bestimmte Immunzellen aus, andere verhindern, dass zerstörerische Zellen die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, und eine dritte Gruppe verändert die Funktion der Immunzellen, sodass sie bestimmte Botenstoffe nicht mehr herstellen.

Nebenwirkungen frühzeitig erkennen

Doch nach wie vor haben die Medikamente Nebenwirkungen: Sie können etwa die Anfälligkeit für Infektionen steigern oder das Risiko für manche Tumorerkrankungen erhöhen. Allerdings tut sich auf diesem Gebiet mittlerweile einiges: So hat eine Gruppe französischer Wissenschaftler kürzlich mithilfe der Magnetresonanztomografie ein charakteristisches „Pünktchenmuster“ im Gehirn ausgemacht, das eine schwere Nebenwirkung eines MS-Medikaments zeigt, noch bevor erste Symptome auftreten und so schnellere Gegenmaßnahmen ermöglicht.

Auch stehen neue Antikörpertherapien kurz vor der Zulassung: Bisher richteten sich die Medikamente ausschließlich gegen die sogenannten T-Zellen, nun können möglicherweise B-Zellen erkannt und gezielt ausgeschaltet werden, wovon sich Mediziner geringere Nebenwirkungen erhoffen. Entsprechende Präparate könnten 2017 auf den Markt kommen, so Christoph Kleinschnitz. Pharmakonzerne versuchen außerdem, eine Art Impfung gegen MS zu entwickeln. In diesem Bereich gebe es bisher aber noch keine großen Erfolge zu vermelden.

Und auch der Zusammenhang zwischen Blutgerinnungssystem und MS wird weiter erforscht: Nicht jeder Mensch besitzt nämlich den Blutgerinnungsfaktor 12 – sollte man also feststellen, dass es unter diesen Menschen keine MS-Fälle gibt, wäre ein neuer Ansatz für die Behandlung der Krankheit gefunden. „Es gibt pharmazeutische Hemmstoffe für Faktor 12“, sagt Kleinschnitz, „sollte er für die MS-Entstehung bedeutsam sein, könnte man ihn medikamentös unterdrücken.“