Wien. Natascha Kampusch, die acht Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten wurde, wird 30 Jahre alt. Ihr Wunsch: „Endlich Frau sein“.

Sie hat ein wenig gehadert mit dem Alter, aber nun ist sie doch froh: Am Samstag wird Natascha Kampusch 30. „Ich will endlich Frau sein“, hat sie kürzlich einmal gesagt, nicht mehr das, was die Menschen in ihr immer noch sehen: das ewige Kind aus dem Keller.

Im Sommer wird es zwölf Jahre her sein, dass sich die damals 18-Jährige aus ihrem Kellerverlies bei Wien befreite und damit von dem Mann, der das Grundschulkind vor inzwischen 20 Jahren von der Straße entführt und in einem unterirdischen Versteck beherrscht, misshandelt und, wie man erst heute weiß, missbraucht hatte.

Nach acht Jahren war Natascha Kampusch endlich frei, jedenfalls glaubte sie das. Manchmal feiert sie auch diesen „Geburtstag“, den sie den „Tag meiner Selbstbefreiung“ nennt: weil sie an jenem 23. August Mut hatte, „eine gute Entscheidung“ traf und die Chance zur Flucht nutzte.

Von eigener Familie träumt Kampusch nicht mehr

Nur, wie kann jemand frei sein, der seither immer wieder gefragt wird, wie er lebt? Und warum? Und mit wem?

Mit niemandem, um das vorwegzunehmen; einen Partner kann sich die Österreicherin zwar vorstellen, eine eigene Familie, von der sie einmal träumte, inzwischen nicht mehr. Feiern aber wird sie am Samstag: mit Familie und Freunden, hat sie der Deutschen Presse-Agentur erzählt.

Dabei sind „Freunde“ Menschen, die Natascha Kampusch lange nicht kannte. Die pure Freude, das lange vermisste Mädchen endlich wiederzufinden, währte damals nicht lange. Neid begleitete die ersten mühsamen Schritte in ein neues, noch lange nicht selbstbestimmtes Leben, das Misstrauen all derer, die an Schwäche nicht glauben wollten, weil die junge Frau so stark wirkte. Dabei sehnte sie sich nach Liebe.

Der Fall Natascha Kampusch

Vor 18 Jahren wurde die Wienerin Natascha Kampusch auf dem Weg zur Schule entführt. Der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil hielt Natascha Kampusch acht Jahre lang gefangen, bis ihr die Flucht gelang. Diese Aufnahme zeigt die heute 28-Jährige bei einem Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion.
Vor 18 Jahren wurde die Wienerin Natascha Kampusch auf dem Weg zur Schule entführt. Der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil hielt Natascha Kampusch acht Jahre lang gefangen, bis ihr die Flucht gelang. Diese Aufnahme zeigt die heute 28-Jährige bei einem Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion. © Parwez | Parwez
2. März 1998: Die zehn Jahre alte Natascha Kampusch verschwindet auf dem Weg in die Volksschule in Wien-Floridsdorf. Ihre Eltern alarmieren am Abend die Polizei.
2. März 1998: Die zehn Jahre alte Natascha Kampusch verschwindet auf dem Weg in die Volksschule in Wien-Floridsdorf. Ihre Eltern alarmieren am Abend die Polizei. © dpa | Peter Trykar
3. März 1998: Eine Schülerin erzählt der Polizei, dass sie beobachtet hat, wie Kampusch in einen weißen Kleinbus gezerrt wurde.
3. März 1998: Eine Schülerin erzählt der Polizei, dass sie beobachtet hat, wie Kampusch in einen weißen Kleinbus gezerrt wurde. © REUTERS | REUTERS / STRINGER/AUSTRIA
6. April 1998: Wolfgang Priklopil wird in Strasshof in Niederösterreich von Ermittlern aufgesucht. Er besitzt einen weißen Lieferwagen. Es ergibt sich kein weiterer Verdacht.
6. April 1998: Wolfgang Priklopil wird in Strasshof in Niederösterreich von Ermittlern aufgesucht. Er besitzt einen weißen Lieferwagen. Es ergibt sich kein weiterer Verdacht. © REUTERS | REUTERS / HO
14. April 1998: Ein Hundeführer der Wiener Polizei macht das Sicherheitsbüro erneut auf den Verdächtigen Priklopil aufmerksam. Dem Hinweis wird nicht nachgegangen. Diese Aufnahme zeigt das Anwesen von Wolfgang Priklopil im österreichischen Strasshof.
14. April 1998: Ein Hundeführer der Wiener Polizei macht das Sicherheitsbüro erneut auf den Verdächtigen Priklopil aufmerksam. Dem Hinweis wird nicht nachgegangen. Diese Aufnahme zeigt das Anwesen von Wolfgang Priklopil im österreichischen Strasshof. © REUTERS | REUTERS / HO
23. August 2006: Aus ihrem Verlies in der Nähe von Wien ...
23. August 2006: Aus ihrem Verlies in der Nähe von Wien ... © REUTERS | REUTERS / STR
... kann sich Natascha Kampusch selbst befreien.
... kann sich Natascha Kampusch selbst befreien. © REUTERS | REUTERS / HO
Zehn Jahre ist es nun her, dass Natascha Kampusch aus diesem Versteck entkommen konnte.
Zehn Jahre ist es nun her, dass Natascha Kampusch aus diesem Versteck entkommen konnte. © REUTERS | REUTERS / HO
Acht Jahre lang durchlebte die junge Frau Höllenqualen. Sie wurde von Wolfgang Priklopil in einem winzigen ...
Acht Jahre lang durchlebte die junge Frau Höllenqualen. Sie wurde von Wolfgang Priklopil in einem winzigen ... © REUTERS | REUTERS / HO
... unterirdischen Bunker gefangengehalten.
... unterirdischen Bunker gefangengehalten. © REUTERS | REUTERS / HO
3096 Tage musste sie in dem zwei mal drei Meter großen Kellerverlies Essensentzug und die Rationierung von Sauerstoff erdulden.
3096 Tage musste sie in dem zwei mal drei Meter großen Kellerverlies Essensentzug und die Rationierung von Sauerstoff erdulden. © REUTERS | REUTERS / HO
Priklopil misshandelte die junge Frau außerdem schwer.
Priklopil misshandelte die junge Frau außerdem schwer. © REUTERS | REUTERS / HO
Der 44-Jährige aus Strasshof ...
Der 44-Jährige aus Strasshof ... © REUTERS | REUTERS / HERWIG PRAMMER
... warf sich kurz nach Kampuschs Flucht vor eine S-Bahn in der Nähe des Wiener Praters. Er kam dabei ums Leben.
... warf sich kurz nach Kampuschs Flucht vor eine S-Bahn in der Nähe des Wiener Praters. Er kam dabei ums Leben. © imago | SKATA
6. September 2006: Kampusch gibt ihr erstes TV-Interview und ist Gast in der ARD-Talkshow von Günther Jauch.
6. September 2006: Kampusch gibt ihr erstes TV-Interview und ist Gast in der ARD-Talkshow von Günther Jauch. © Müller-Stauffenberg
Februar 2008: Österreichs Innenminister setzt eine Kommission ein, die den Fall untersuchen soll. Hatte Priklopil einen Mittäter? Am 23. Oktober 2008 wird der Fall Kampusch neu aufgerollt.
Februar 2008: Österreichs Innenminister setzt eine Kommission ein, die den Fall untersuchen soll. Hatte Priklopil einen Mittäter? Am 23. Oktober 2008 wird der Fall Kampusch neu aufgerollt. © REUTERS | REUTERS / HEINZ-PETER BADER
8. Januar 2010: Die Akte wird wieder geschlossen. Polizei und Staatsanwaltschaft sind überzeugt, dass Priklopil keine Komplizen oder Mitwisser hatte. Ein Freund des Entführers wird aber wegen Begünstigung angeklagt.  Im Juli 2012 startet einer neuerliche Untersuchung.
8. Januar 2010: Die Akte wird wieder geschlossen. Polizei und Staatsanwaltschaft sind überzeugt, dass Priklopil keine Komplizen oder Mitwisser hatte. Ein Freund des Entführers wird aber wegen Begünstigung angeklagt. Im Juli 2012 startet einer neuerliche Untersuchung. © REUTERS | REUTERS / LISI NIESNER
Im September 2010 erscheint die von Heike Gronemeier und Corinna Milborn mit Natascha Kampusch geschriebene Biografie „3096 Tage“.
Im September 2010 erscheint die von Heike Gronemeier und Corinna Milborn mit Natascha Kampusch geschriebene Biografie „3096 Tage“. © REUTERS | REUTERS / HEINZ-PETER BADER
28. Februar 2013: Die Verfilmung von Kampuschs Schicksals anhand ihrer Biografie  kommt in die deutschen Kinos.
28. Februar 2013: Die Verfilmung von Kampuschs Schicksals anhand ihrer Biografie kommt in die deutschen Kinos. © imago stock&people | Viennareport
Ihr Schicksal wird von den Schauspielerinnen Amelie Pidgeon (Mitte) und Antonia Campbell dargestellt.
Ihr Schicksal wird von den Schauspielerinnen Amelie Pidgeon (Mitte) und Antonia Campbell dargestellt. © imago stock&people | Sven Simon
April 2013: Das internationale Expertenteam bestätigt, dass Priklopil „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ keine Helfer hatte und Einzeltäter war.
April 2013: Das internationale Expertenteam bestätigt, dass Priklopil „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ keine Helfer hatte und Einzeltäter war. © REUTERS | REUTERS / HEINZ-PETER BADER
Februar 2016: Die Wiener Polizei prüft nach einer Anzeige die Todesumstände des Entführers erneut. Im März wird bekannt, dass Priklopil sein Opfer während der Gefangenschaft gefilmt hatte. Die Ermittler stufen das mehrstündige Videomaterial als nicht relevant ein.
Februar 2016: Die Wiener Polizei prüft nach einer Anzeige die Todesumstände des Entführers erneut. Im März wird bekannt, dass Priklopil sein Opfer während der Gefangenschaft gefilmt hatte. Die Ermittler stufen das mehrstündige Videomaterial als nicht relevant ein. © imago/ | SKATA
Juni 2016: Kampusch verliert vor dem Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen das Buch „Der Entführungsfall Natascha Kampusch - Die ganze beschämende Wahrheit“. Die Wienerin betrachtete die Schilderung des Videomaterials als Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts.
Juni 2016: Kampusch verliert vor dem Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen das Buch „Der Entführungsfall Natascha Kampusch - Die ganze beschämende Wahrheit“. Die Wienerin betrachtete die Schilderung des Videomaterials als Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts. © Parwez | Parwez
August 2016: Zum zehnten Jahrestag ihrer Flucht bringt Kampusch ihr zweites Buch „Natasche Kampusch: 10 Jahre Freiheit“ heraus und zieht eine ausführliche Bilanz über ihr Leben nach dem Martyrium.
August 2016: Zum zehnten Jahrestag ihrer Flucht bringt Kampusch ihr zweites Buch „Natasche Kampusch: 10 Jahre Freiheit“ heraus und zieht eine ausführliche Bilanz über ihr Leben nach dem Martyrium. © dpa | List Verlag
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Ihre Therapie hat sie bis heute beibehalten

Bis heute geht Kampusch zur Therapie, lernte dort, auf sich selbst zu hören. Dabei hatte sie es tatsächlich geschafft, in den acht Jahren mit Wolfgang Priklopil, für sie bis heute nur „der Täter“, sie selbst zu bleiben. Mehr noch: eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.

„Draußen“, sagt sie heute, habe sie anfangs vieles spannend gefunden, sich aber auch an Leuten orientiert, die sie belächelten oder ausnutzen wollten. „Es war wichtig zu sagen, ich bin in Ordnung, so wie ich bin“: Natascha Kampusch, kreativ, wortgewandt, zurückhaltend, eine junge Wienerin, die ihr Haar, einst oft geschoren, nun immer lang trägt.

Als „Schauspielerin“ wird sie im Onlinelexikon Wikipedia geführt, erst dann als „österreichische Schmuckdesignerin und ehemalige Fernsehmoderatorin“. An eine Schauspielerin kann sich keiner erinnern, eine eigene Talkshow wurde schon nach drei Folgen eingestellt, zwei Bücher über ihr Martyrium aber hat sie geschrieben: „3096 Tage“ und „Zehn Jahre Freiheit“.

Im Herbst hat sie, die nach dem nachgeholten Schulabschluss eine Goldschmiedelehre abbrach, eine eigene Schmucklinie vorgestellt. „Fiore“ heißt die, italienisch für Blume; ihr Stiel hat einen Knick, wie das Leben der Natascha, aber daraus, das ist ihr wichtig, wächst doch eine Blüte. Sie will das Zarte in sich zeigen und mit etwas Humor auch hier, was sie ist: „eine Überlebenskünstlerin“.

Zu ihrem Geburtstag will sie Spenden – keine Geschenke

Es hat lange gedauert, bis Österreich von ihrer Überlebensgeschichte abgelassen hat, mehrere Untersuchungsausschüsse gab es, immer neue Ermittlungen, neue Verdächtige. Aber „der Täter“, dabei blieb die nun 30-Jährige immer, war der einzige.

Nun sind die Akten geschlossen, Natascha Kampusch sagt, sie leide nicht mehr sehr. „Es ist mehr so ein Gefühl“, sie weiß zu verhindern, dass es sich in ihr heutiges Leben „frisst“. Manchmal vermisst sie die Pubertät, die sie nie leben konnte, manchmal wundert sie sich über ihre Bodenständigkeit: „Ich hätte gedacht, dass ich reiselustiger bin oder gar auswandern werde.“

Aber eigentlich möchte sie nicht mehr darüber reden. Lieber darüber, dass sie sich für wohltätige Zwecke engagiert. Auch zu ihrem Geburtstag will sie Spenden und keine Geschenke. Warum? Aus einem Schuldgefühl heraus, weil sie überlebt habe? Viele Opfer empfinden so. Nein, das Überleben mache ihr keine Schuldgefühle. Im Gegenteil. „Das find ich prima.“