Weinstadt. Gotthilf Fischer wird 90 Jahre alt. Seit mehr als 70 Jahren leitet er seine berühmten Chöre. Und bis heute probt er fünfmal die Woche.

Wer zu Gotthilf Fischer will, muss an Esther Müller vorbei. Es kann aber sein, dass sie einen nicht durchlässt. „Der Herr Fischer möchte vor seinem Geburtstag keine Interviews mehr geben“, sagt sie freundlich am Telefon, „kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“ Wie sich herausstellt, kann sie das. Seit 1974 singt sie in den Fischer- Chören, seit 1994 ist sie die Managerin des Chorleiters. Bei ihr ist viel über den Mann zu erfahren, der die Menschen zum Singen bringt.

Seinen ersten Chor gründete Gotthilf Fischer 1942, mitten im Krieg, als Schüler – einen Schulchor. 1945 übernahm er dann den Gesangsverein Deizisau bei Plochingen, in seiner schwäbischen Heimat. Mehr und mehr Singvereine wurden es, bis zu 14, die zusammen als die „Fischer-Chöre“ firmierten. An diesem Sonntag wird der buchstäblich unermüdliche Musiker 90. Rente? Ach, wozu denn. Er leitet immer noch fünf Chöre. Proben finden täglich außer montags und samstags statt.

Kaum Zeit für Interviews

Gotthilf Fischer mit Chormitglied und Managerin Esther Müller.
Gotthilf Fischer mit Chormitglied und Managerin Esther Müller. © imago/Robert Michael | imago stock

Da bleibt kaum Zeit für Interviews, das übernimmt wie so vieles in seinem Alltag gern die Frau Müller. In weichem Schwäbisch erzählt sie, wie sie während ihrer Ausbildung als Bürokauffrau in den Betriebschor der Firma eintrat. Chorleiter: Gotthilf Fischer. Damit war entschieden, wie sie fortan ihre Freizeit verbringen würde.

Die erste Konzertreise sei nach Lüneburg gegangen. „Ich weiß noch, wie ich im Bus saß, und vor und hinter uns sah man nichts als Busse, auf denen ‚Fischer-Chöre‘ stand. Das war schon toll.“ Von freitagmittags bis sonntagabends seien sie fast jede Woche unterwegs gewesen.

Chor-Auftritt bei Fußball-Weltmeisterschaft 1974

„Als mal keine Reise anstand, hat eine Frau in der Probe gefragt: ‚Und was sollen wir dann am Wochenende machen?‘ Die Leute haben gelebt für den Chor“, sagt Müller. Es gebe Familien, da seien von Opa bis Enkel alle dabei.

„1000 Stimmen singen für Millionen“, stand auf manchen Schallplatten der Fischer-Chöre. So viele waren es mindestens bei einem der größten Auftritte: 1974 beim Abschluss der Fußball-Weltmeisterschaft in München.

Müller schwärmt von der Arbeit des Autodidakten Fischer: „Er hat so eine eigene Handschrift. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich es nicht glauben, aber es ist so: Er hebt die Hand, und die Leute singen anders.“ Besser als bei anderen, meint sie.

Fischer ist kein verbiesterter Dirigent

Er sei ein sehr entspannter Dirigent, kein verbiesterter. Wenn mal einer falsch singe, mache er einen Scherz. So was wie „Was da aussieht wie ein Fliegenschiss, ist in Wirklichkeit eine Note.“ Er lasse jeden mitsingen, auch die, die nicht die ganz großen Sänger seien.

Das störte nicht auf dem Weg zu großer Popularität. Fernsehauftritte trugen ab 1969 dazu bei – von 1995 bis 2008 gab es mit „Straße der Lieder“ eine eigene Sendung.

Nachwuchssorgen? „Ja, natürlich, das ist eben der Lauf der Zeit“, so Müller. Viele wollten lieber Englisch singen, die gingen dann eher in Gospel-Chöre. Das war immer das Markenzeichen: deutsche Lieder. Volkslieder. Mal einen klassischen Mozart. Ausnahmsweise mal englische Weihnachtslieder. Ein großer Anreiz, mitzumachen, seien natürlich auch die tollen Reisen gewesen. Nach Amerika. Zum Papst. Nach Ägypten. „Früher ist man ja privat nicht so viel gereist.“

Singen ist gesund und macht glücklich

Die Zeiten ändern sich, aber eins bleibt: Singen ist gesund. Und macht glücklich. Davon würde Fischer nie abweichen. Die Musik habe ihm auch in der Trauer um seine Frau Hildegard geholfen, sagte er einmal. Sie war 2008 nach fast 60 Ehejahren mit 89 Jahren gestorben.

„Sie merken das in jeder Chorprobe“, sagt die Managerin. „Die Leute kommen an, gebeugt von ihren Alltagssorgen, und nach einer halben Stunde Singen sind sie kaum wiederzuerkennen.“

„Stille Nacht“ bei 30 Grad

Auch unter extremen Bedingungen: 30 Grad waren es, ein Augusttag, erinnert sich Müller, und über 1000 Sänger standen in den Stuttgarter Messehallen, für eine der vielen Schallplattenaufnahmen. Auf dem Programm: „Stille Nacht“. „Jetzt stellt euch vor, da steht ein Tannenbaum“, habe Fischer gesagt, und dann sei es gegangen.

Und wie wird der große Tag nun gefeiert? „So gut wie gar nicht“, sagt Müller. Es sei jetzt schon so viel los gewesen, und in der Woche nach Fasching werde der Dirigent jeden Abend bei den Proben von einem seiner Chöre gefeiert. „Am Tag selbst will er ganz klein im privaten Kreis sein.“ Weiß sie, worauf er besonders stolz ist in seinem Leben? „Ich glaube darauf, dass er im hohen Alter noch so viel arbeiten darf.“ Ob es etwas gibt, was er bereut? Das weiß sie, ja, er bereue nichts. „Er würde alles wieder genauso machen.“