Berlin. Mutige Kleider, pralle Lebensfreude: Céline Dion hat sich nach dem Tod ihres Ehemannes neu erfunden – und gilt plötzlich als cool.

Céline Dion ist so richtig gut drauf. Sie trägt ein Seidenkleid in Barbie – Optik, zieht Grimassen, witzelt mit den Reportern, die sich nicht mal die Mühe geben, so zu tun, als interessierten sie sich für die Handtaschenkollektion, die sie hier in Montreal vorstellen will. „Sie sind ja jetzt Single, wie geht es Ihnen damit?“, fragt einer. „Fragen Sie mich gerade nach einem Date?“, kontert die Frankokanadierin und schmettert dann plötzlich den Song „Diamonds“ ihrer Kollegin Rihanna. Was genau sie damit sagen will, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht, dass man bei einer Frau ihres Kalibers besser nicht ohne Diamanten zum Rendezvous erscheint?

Die Szene steht für Céline Dion, wie sie sich neu erfunden hat: schlagfertig, lebenslustig und mit unendlich dehnbaren Geschmacksgrenzen in Sachen Mode – sie kleidet sich, als hätte sie den Nachlass von Las-Vegas-Stars wie Liberace und Elvis geplündert oder Cher beim Ausmisten ihres Kleiderschranks geholfen. Genau 20 Jahre ist es her, dass Céline Dion mit ihrer Liebeshymne „My Heart will go on“, Titelsong des Untergangsepos „Titanic“, zur Heulboje Nummer eins wurde.

Céline Dion erschließt sich neue Zielgruppen

Kurz vor ihrem 50. Geburtstag nun blüht die Sängerin auf wie eine Chrysantheme – in den schillerndsten Farben. Sie wirkt wie die flippige Tante, die vielleicht manchmal ein bisschen peinlich ist, aber Schwung in jede Familienfeier bringt. Und sie erschließt sich neue Zielgruppen. „Céline Dion ist wieder cool, und wir sind bereit dafür“, titelte die angesagte Musik-Webseite Junkee. „Es ist Liebe“, jubelte das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ in einer Konzertkritik und fand ihre „unbeholfene Steifheit“ einfach „charmant“.

Dabei war die Bemerkung des Reporters in Montreal, sie sei ja jetzt Single, vermessen. Dion ist Witwe. Im Januar 2016 starb ihr Ehemann und Manager René Angélil im Alter von 73 Jahren. 27 Jahre waren sie verheiratet. Er hatte sie als Zwölfjährige entdeckt und den Rest seines Lebens ihre Geschicke gesteuert. 1998 erkrankte er erstmals als Krebs. Dion hatte mit ihm gekämpft und gelitten, er starb in ihren Armen.

„Encore une soir“ wird ein gelobtes Album

Nach über 30 Jahren auf der Bühne und 230 Millionen verkauften Tonträgern war Dions Karriere da längst auf dem Stillstand. Ihren letzten Top-Ten-Hit in den USA hatte sie 2007 mit „Taking Chances“, die Albumverkäufe waren eingebrochen. Dion trat – hoch bezahlt – in Las Vegas auf, wo traditionell große Stars jenseits ihres Zenits auf der Bühne ihre Karriere Revue passieren lassen. Nach einigen Trauermonaten nun brachte Dion ab Sommer 2016 ihr Karriere-Schiff wieder auf Kurs: Sie setzte sich über den Willen ihrer Plattenfirma hinweg und veröffentlichte mit „Encore une soir“ ein gelobtes Album in ihrer Muttersprache Französisch.

Gleichzeitig wagte sie sich heraus aus Vegas und ließ sich auf einer Welttournee feiern. Auch von jüngeren Fans. Als cool galt Céline Dion, der Anti-Popstar, eigentlich nie. Ihr Publikum war immer älter als sie selbst, für Radio und Kaufhausbeschallung lieferte die Balladenkönigin Massenware. Doch die heutige Hipster-Generation, die mit ihrem Über-Hit „My Heart will go on“ aus dem „Titanic“-Film aufgewachsen ist, hat nun ihre Hits für 90er-Jahre-Partys wiederentdeckt.

Dion macht Furore mit ihrem Kleidungs-Spleen

„Sie ist authentisch, man glaubt ihr, dass sie liebt, was sie tut“, erklärt die aus­tralische Pop-Bloggerin Rebecca Varcoe Dions Comeback. „Und ihre Shows sind mitreißend.“Furore aber macht vor allem ihr Kleidungs-Spleen. Zum ersten Mal in ihrer Karriere gilt die dreifache Mutter als Mode-Ikone. „Céline Dion rockt die Trends mit ihrem persönlichen Superstar-Twist“, wertschätzt die „Gala“ ihre Experimentierfreude und zeigt, wie man ihren plötzlich so ausgefallenen Look imitieren kann. Verantwortlich für diese Metamorphose ist ihr neuer Stylist Law Roach.

Unter puristischen Gesichtspunkten müsste er ein Berufsverbot bekommen, aber die beiden haben so viel Spaß. „Wir probieren manchmal sechs Stunden Klamotten an und lachen dabei“, erzählte er der „New York Post“. Er bewundere ihren „modischen Mut“ – man könnte es auch Wahnsinn nennen.

Liebelei mit ihrem 17 Jahre jüngeren Tänzer

Für die Mode-Bibel „Vogue“ ließ sie sich lasziv wie nie in einem bizarren Blumen-Ensemble auf einem Bett des Pariser Luxushotels Ritz ablichten. Bei den Billboard Awards erschien sie in einer Kreation, die mit ihren utopischen Puffärmeln wirkte wie das Brautkleid eines Aliens, und flirtete backstage mit Rapper Drake. „Ich will ein Céline-Tattoo“, schmeichelte der 30-Jährige ihr. Nach der Met-Gala stahl sie sich im schwarzen Versace-Kleid mit Schleppe und Beinschlitz auf die Straße, um einen Hotdog zu verschlingen.

Zu dieser Lockerheit passt eine unbeschwerte Liebelei: Mit ihrem Tänzer Pepe Munoz (32) liefert sie sich während ihrer Shows eine Einlage à la „Dirty Dancing“, und der Spanier darf seine Chefin auch privat begleiten. So wurden die beiden in Berlin und Paris bei romantischen Abendessen gesehen. In Frankreich trug sie dabei unter ihrem Blazer nur einen Spitzen-BH – und dazu ein breites Lächeln. Aus der Heulboje ist eine Strahle­frau geworden.