Hamburg. Mit Hits wie „Sonderzug nach Pankow“ schrieb Udo Lindenberg Geschichte. Nun wird er 70 Jahre alt und startet nochmal eine große Tour.

„Udopium – geiles Wortspiel, ne?“, sagt Udo Lindenberg und grinst. „Deutschland nimmt wohl eine neue Droge“, erklärt er sich das, was um ihn herum gerade passiert. Unter dem Einfluss jenes Udopiums könnten Partys lange dauern – gefühlt hat der Musiker seit Wochen Geburtstag. Seit er sein Werk „Stärker als die Zeit“ vorgelegt hat, wird er nicht nur von Fans gefeiert. Mit Volldampf rast er seit Ende April durch die Medienkanäle, in den Charts platziert er sein drittes Nummer-Eins-Album, und er selbst glaubt, eine Rakete gefrühstückt zu haben, weil alles so nach oben „zischt“. Warum ihn plötzlich (fast) alle lieben? „Weil ich geile Sachen mache“, sagt er. Am diesem Dienstag wird Udo Gerhard Lindenberg nun tatsächlich 70 Jahre alt.

Am Anfang stand eine Art „Masterplan“, den der Sohn des Installateurs Gustav und der Hausfrau Hermine ausgeheckt hatte – getrieben vom Wunsch, „reich und berühmt“ zu werden. Seit Ende der 60er Jahre lebt er bevorzugt in Hamburg. Hier, wo er in frühen Jahren in einer WG mit Komiker Otto Waalkes und Rocker Marius Müller-Westernhagen wohnte und heute das Hotel „Atlantic“ seine Dauerherberge ist, entwarf er das Bild vom Rock-Revolutionär: „Markante Silhouette mit enger Beinbekleidung, torkelnde Lindi-Choreografie und deutsche Texte. Strategie-Papiere für den Weg vom Gully zum Gipfel.“ Eigentlich erfolgreicher Schlagzeuger, trat er Anfang der 70er Jahre in den Vordergrund.

Wegbereiter der deutschsprachigen Rockmusik

„Keine Panik auf der Titanic, jetzt trinken wir erst mal einen Rum mit Tee“, sang er 1972 in „Hoch im Norden“, im Jahr darauf gelang ihm mit „Alles klar auf der Andrea Doria“ endgültig der Durchbruch. „Damals war die amtliche Popsprache Englisch, zumindest für die, die nicht selbstmörderisch eigensinnig sein, sondern viele Platten verkaufen wollten“, bemerkt Autor Benjamin von Stuckrad-Barre im Buch „Am Trallafitti-Tresen“ (2008), das er mit seinem Kollegen Moritz von Uslar verfasste. Uslar nennt jene Entscheidung für das Deutsche die „historische Leistung von Udo“.

Die Deutschen jedenfalls horchten auf: Das klang anders als alles, was bis dahin aus den Radios dröhnte. Lindenberg wurde zum Wegbereiter: „Ohne Udo Lindenberg würden wir alle nicht das erreicht haben mit unserer deutschsprachigen Rockmusik, was passiert ist“, sagte seine Kollegin Nina Hagen in einer TV-Doku. Und er schrieb Geschichte(n): wenn er zu Zeiten der deutschen Teilung über das „Mädchen aus Ost-Berlin“ sang, dort im Palast der Republik auftrat oder mit dem „Sonderzug nach Pankow“ musikalisch durch die Mauer preschte. Sein Lied „Wozu sind Kriege da?“ – eine zeitlose Anti-Kriegs-Hymne. Und immer wieder Rock gegen Rechts für eine Bunte Republik Deutschland.

Irgendwann aber sah man „Uns Udo“ mehr auf dem Barhocker als auf der Bühne. Abgeschrieben an Alkoholexzesse, kein angemessenes Alterswerk in Sicht. Der Alkohol, dem schon sein Vater zugeneigt war, war auch in seinem Leben und Werk sehr präsent. „Und der Whisky, der zieht runter – und sein Blut wird schnell und warm. Und jetzt nimmt ihn Lady Whisky ganz zärtlich in den Arm“, sang er Anfang der 90er Jahre. 2003 erstmals und auf dem neuen Album folgte ein Dankeschön an seinen Körper: „Ich hab' geraucht so wie ein Schlot und gesoffen wie ein Loch. Ich hab' dich super hart geschunden, trotzdem leben wir immer noch.“ Immer wieder räumte er aber auch ein: „So manche hohe Wissenschaft und Symphonien und höhere Sphären wär'n nicht entstanden, wenn die Kollegen immer nur nüchtern geblieben wären.“

Erstes Nummer-Eins-Album der Karriere

Andere hätte das alles endgültig aus der Bahn geworfen, Lindenberg aber hat die Kurve gekriegt. Mit dem Comeback vor acht Jahren gelang ihm das erste Nummer-Eins-Album seiner Karriere, nach „MTV Unplugged“ (2011) platziert er nun mit „Stärker als die Zeit“ sein drittes. Mit 70 Jahren ist er fitter denn je, rockte bei den ersten Proben für seine Tournee fast drei Stunden lang über die Bühne. Denkmäler wurden für ihn errichtet, darunter in seinem Heimatort, dem westfälischen Gronau, wo er auch Ehrenbürger werden soll – und er hat sie sich selbst gesetzt, nicht nur mit seinen Songs, auch mit einem eigenen Musical, das nach Berlin bald in Hamburg zu sehen sein wird: „Hinterm Horizont“ auf der Reeperbahn.

Seinen 70. feiert er mitten in den Proben im Schalke-Stadion von Gelsenkirchen. Nach dem Start am 20. Mai kutschieren 31 Trucks die Materialien bis zum 26. Juni durchs Land: 200 Lautsprecher, 31 Kilometer Kabel, 300 Spezialscheinwerfer -- für den „pompösen Abschlussball“, wie er die Tournee auch nennt, denn „in dieser Form wird es die Shows nicht mehr geben“. Wie heißt es auf seiner aktuellen Platte? „Jede Show kann die letzte sein.“ Diesmal ist es für ihn das Ende einer Trilogie, die 2014 mit der ersten Stadion-Tour seiner Karriere begonnen hatte.

„Geilomatik“, findet Lindenberg alles um sich herum gerade. Die Thermik für die „Nachtigall“, wie er sich immer nennt, sei wundervoll, sagt er. Er will noch länger oben in der „panischen Umlaufbahn“ bleiben. Zum Konzert auf Schalke holt er sich seine Ex-WG-Kumpel Otto und Marius auf die Bühne. Was nach der Tour passiert? „Dann fährt der Abenteurer weiter Richtung neue Horizonte“, sagt er. „Aber erst einmal gibt es die letzte volle Ladung Udopium fürs Panik-Volk.“ (dpa)