Hamburg. Teil 13: Wie eine unbekannte Therapie mit einem ungewöhnlichen Gerät aus Gurten und Schlingen helfen kann.

Die Schmerzen waren enorm. Ich konnte nicht stehen. Ich konnte nicht sitzen. Ich konnte nicht auf dem Rücken liegen mit ausgestreckten Beinen. Jedenfalls nicht länger als ein paar Minuten. Und zumindest gefühlt wurden die Schmerzen von Tag zu Tag größer.

Was ging, war: zu gehen. Der Radiologe hörte sich nach dem MRT schon beinahe tröstlich an. „Ich kann Ihnen bestätigen: Sie sind kein Simulant. Sie haben einen Bandscheibenvorfall.“ Immerhin. Die dann folgende Erklärung übersetzte mir mein Orthopäde: Ein Stückchen Bandscheibe hatte sich gelöst und drückte auf den Nerv. Die Folge: Starke Schmerzen im Rücken, Taubheitsgefühle im rechten Oberschenkel.

Therapeutin Mona Platzeck zeigt die spezielle Behandlungsmöglichkeit.
Therapeutin Mona Platzeck zeigt die spezielle Behandlungsmöglichkeit. © michael rauhe

Das war die Diagnose

Im Original las sich das so: „Nachweis eines rechts aszendierend seques­trierten Bandscheibvorfalls im Segment L2/3 mit Ausbildung eines großen recessalen Sequesters rechts, der die Nervenwurzel L3 deutlich komprimiert und auch die Nervenwurzel L2 im foraminalen Eintritt bedrängt.“

Das, erklärte mir Dr. Holger Ebel, mein Orthopäde am Niendorfer Tibarg, den ich seit Jahren bei starken Rückenschmerzen aufsuche und bei dem ich mich in sehr guten Händen weiß, sei ziemlich selten. Und eine Operation mithin ziemlich wahrscheinlich. Ich versuchte es auf Anraten des Arztes aber erst einmal ohne. Statt Narkose und Skalpell standen manuelle Therapie an, Akupunktur, viel Bewegung – und schmerzlindernde Spritzen in den Rücken. Sogenannte PRT. Bei der periradikulären Therapie wird mithilfe eines Computertomografen ein Medikament exakt auf die gereizte Nervenwurzel gespritzt, um diese zu beruhigen. Die Kurzfassung meiner Krankengeschichte ist: Die Behandlung hat funktioniert, ich kam um eine Operation herum. Das abgetrennte Stückchen Bandscheibe ist inzwischen wohl vertrocknet und zerbröselt, da es nicht mehr versorgt wurde.

Neurac als Vorschlag

Was aber blieb nach der erfolgreichen Behandlung? Die Gewissheit, dass etwas folgen muss, dass mir, wenn ich nichts tue, um die Rückenmuskulatur zu stärken, das ganze Procedere irgendwann wohl wieder drohen dürfte. Der Vorschlag eines Kollegen: Neurac.

Wer als Rückenpatient das erste Mal den Ratschlag erhält, es mal mit Neurac zu versuchen, zögert – erst recht, wenn er sich Bilder oder Videos dieser Behandlungsmethode ansieht: Was soll das denn sein? Und vor allem: was soll das denn bringen? Physiotherapeutin Mona Platzeck vom Rückenzentrum Am Michel kennt diese Vorurteile, beim ersten Kontakt mit ihren Patienten blickt sie oft in unsichere, eher abwartende Gesichter. Das Gerät, an dem trainiert wird, ist aber auch einfach skurril: verstellbare Schlingen und Seile, die von der Decke baumeln, und in die sich jeder Patient erst einmal reinarbeiten muss. Und wenn es losgeht, hängen ein oder mehrere Körperteile in der Luft, manchmal sagen Patienten, dass sie sich ein wenig wie beim Tierarzt fühlen.

"Baustellen im Körper"

Tatsächlich erzeugt Neurac bei vielen Patienten vor allem Hochgefühle. Mona Platzeck erzählt gern von Menschen, die nach jahrelangen Behandlungen und vielen sogenannten Schmerzepisoden zu ihr kommen, um dann nach einer oder wenigen Sitzungen zum ersten Mal wieder schmerzfrei zu sein. „Das sind die Momente, die meinen Job so einzigartig machen“, sagt sie. Die Therapie beginnt damit, dass sich Platzeck genau erklären lässt, wie lange Beschwerden bestehen und wo sie genau liegen. „Wir machen verschiedene Tests. Dann haben wir ein gutes Bild, wie der Körper arbeitet“, sagt die Therapeutin. Sie nennt das, „die Baustellen im Körper“ zu ermitteln. „In den Folgebehandlungen arbeiten wir mit dem Gerät, besprechen aber auch in jeder Stunde Übungen, die der Patient zu Hause oder im Fitnessstudie machen kann, um aufrechtzuerhalten, was in der Stunde erarbeitet wurde.“

Ein konkretes und zugleich typisches Beispiel: Ein Mann hat seit Jahren immer wiederkehrende Schmerzen im unteren Rückenbereich, insbesondere, wenn er lange gesessen oder gelegen hat. Manchmal ist er nach dem Aufstehen richtig schief. In regelmäßigen Abständen hat er auch Hexenschüsse. Kraft- und Konditionstraining haben dagegen wenig geholfen. Und hier setzt Neurac an. Das Wort steht für „NEURomuscular ACtivation“, also Neuromuskuläre Aktivierung. Das Konzept stammt von einer norwegischen Firma.

Ständige Hexenschüsse

Bei vielen Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen liegt ein Ungleichgewicht in der Muskulatur vor – einzelne Muskeln arbeiten vernünftig, einige sind über-, andere unterfordert. „Wir vergleichen das gern mit einem Orchester: Alle müssen gleichmäßig gut spielen, sonst klingt auch der beste Solist nicht“, sagt Dr. Susanne Schnibben vom Rückenzentrum Am Michel.

Im beschriebenen Fall haben die ständigen Hexenschüsse offenbar dazu geführt, dass das Gehirn bestimmte Muskelgruppen im Rücken des Patienten nicht mehr ansteuert – das führt zu einem muskulären Ungleichgewicht im Körper, zu Verspannungen, zur schiefen Haltung. Die Therapie: Mit gezielten Übungen, bei denen in den Gurten hängend Spannung im Körper aufgebaut wird, wird versucht, die „eingeschlafenen“ Muskelgruppen aufzuwecken.

„Die Patienten spüren plötzlich ein Brennen in den betroffenen Regionen. Das ist das Zeichen dafür, dass vergessene Muskeln ihre Arbeit wieder aufnehmen“, sagt Platzeck. Der große Vorteil von Neurac sei, dass man damit ganz gezielt die entsprechenden Muskelgruppen ansteuern könnte – und dass meist etwa fünf Sitzungen reichen würden, um die Rückenprobleme in den Griff zu bekommen oder deutlich zu lindern.

Steifes Fußgewölbe

Wer sich bei Orthopäden oder derem Berufsverband zur Schlingentherapie umhört, kommt nicht weit. Das Rückenzentrum Am Michel gehört zu den wenigen Vorreitern in Deutschland, weit verbreitet ist die neue Therapie noch nicht. Orthopäden sprechen gegenüber dem Abendblatt von einer zusätzlichen Behandlungsmethode, die helfen könne, unterforderte Muskelgruppen aufzubauen und ausgefallene Rückenmuskeln neu zu stimulieren.

Und in meinem Fall? Nach den Tests erklärt mir die Therapeutin, dass sich mein „Fußgewölbe zu steif bewegt“. Sie vergleicht das mit dem Stoßdämpfer eines Autos. Mit jedem Schritt werde eigentlich Kraft abgefedert, nur dass mein Stoßdämpfer nicht funktioniere. In der Folge müsse der Rücken die Kraft abfedern, das führe zu einer Veränderung im Muskelzusammenspiel. Es folgen weitere Tests in den Schlingen und recht anstrengende Behandlungen, um einzelne Muskeln neu zu fordern und zu reaktivieren. Und es wirkt: Nach der Behandlung erreiche ich bei einer Übung tatsächlich wieder mit den Fingern die Zehenspitzen, ohne dabei die Beine zu beugen.

Das Rückenzentrum Am Michel bietet Neurac
an – aber nicht als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse. Privatrezepte über „Manuelle Therapie (Doppelbehandlung)“ werden
akzeptiert. Eine 60-minütige Einzelbehandlung kostet 72 Euro.

Drei Fragen an die Expertin

Die Neurac-Expertin Mona Platzeck erklärt die Behandlung in Schlingen und Gurten:

Was ist Ihr besonderer therapeutischer Ansatz? Mit Hilfe des Schlingensystems kann ich schnell erkennen, wo die Kraftübertragung zwischen den Muskeln und Faszien nicht gut funktioniert oder in welchen Muskeln mein Patient zu wenig oder zu späte Aktivität aufbringt. Das System macht es außerdem möglich, diese Störung schnell und effektiv zu behandeln. Häufiger kommt es vor, dass die Ursache der Funktionsstörung fern von dem schmerzenden Bereich liegt.

Was ist für Sie ein Behandlungserfolg? Die Therapie ist erfolgreich, wenn wir Schmerzen lindern oder Beweglichkeit verbessern können. Ziel ist es, dass wir die Beschwerden des Patienten im Alltag, im Beruf oder beim Sport beseitigen oder zumindest verringern. Das kann je nach Patient natürlich ein ganz unterschiedliches Ziel sein. Für den Tennisspieler ist das vielleicht der schmerzfreie kräftige Aufschlag, für eine ältere Dame kann es ein Ziel sein, besser die Treppe steigen zu können.

Was kann ich nach der Behandlung selbst noch tun? In der Behandlung decken wir die Schwachstellen des Patienten auf. Wir suchen dann gemeinsam nach Übungen, um genau diese Defizite zu verbessern. Wichtig dabei ist, dass wir ein Level finden, in dem der Patient zwar gefordert wird, aber nicht überfordert wird oder kompensieren muss. So kann der Behandlungserfolg nach der Therapie aufrechterhalten werden.