Hartwig Schröder führte in Hamburg ein Doppelleben. Tagsüber war er Auszubildender, in seiner Freizeit arbeitete er als Callboy für Männer.

In einem Internet-Blog berichtete der 43-Jährige vor knapp drei Jahren erstmals über dieses Doppelleben zwischen Sexarbeit und häuslicher Idylle - binnen weniger Monate verzeichnete die Seite mehr als eine halbe Million Leser. Jetzt ist die Geschichte als Buch ("Mein Prinz, der Callboy", 14,95 Euro, Eichborn-Verlag) erschienen und wird 2010 fürs Kino verfilmt. Hartwig Schröder lebt heute als Softwareentwickler in Karlsruhe. Vanessa Seifert hat ihn in Hamburg getroffen.

Journal:

Sie waren jung, brauchten das Geld aber nicht. Warum haben Sie dennoch als Callboy angeschafft?

Hartwig Schröder:

Weil es sich gut angefühlt hat, begehrt zu werden. Jeden Tag haben mir Männer zu verstehen gegeben: Du siehst super aus, wir wollen dich. Ich fühlte mich wertvoll. Die Männer haben schließlich gutes Geld gezahlt, um Zeit mir zu verbringen. Jeder Psychotherapeut würde bei mir wahrscheinlich auf mangelndes Selbstwertgefühl schließen ...

Und, würde das stimmen?

Irgendwie schon. Ich bin ein schüchterner Typ, der Anerkennung gesucht hat.

Was ist der Kick des käuflichen Sex?

Mich hat die Lust auf Abenteuer angetrieben. Ich war die Pippi Langstrumpf der schwulen Männer. Je ausgefallener die Sex-Fantasien der Freier waren, umso angefixter war ich. Ich habe es genossen, durch die Straßen zu gehen und zu wissen: Alle Spaziergänger denken, du bist ein ganz normaler Typ, dabei führst du ein wildes Doppelleben.

Wann war ein "Arbeitstag" befriedigend?

Das hatte nichts mit der Anzahl der Männer zu tun. Gut war es, wenn im Bett etwas Neues passiert ist.

Aber Sie haben doch nicht alles mitgemacht?

Nein, manchmal bin auch gleich wieder gegangen. Wenn ein Freier ungepflegt war oder besoffen. Das war auch mein Glück - ich konnte Nein sagen und abhauen. Anders als die Drogen-Stricher vom Hansaplatz, die das Geld brauchen.

Hatten Sie nie Angst vor Aids?

Und wie. Monatelang habe ich diese Gefahr regelrecht ausgeblendet, um dann einmal im Jahr Panik zu schieben, richtig hochzudrehen. Ich hatte 10 000 Schutzengel, bin gesund.

Sie waren Callboy und lebten gleichzeitig in einer Beziehung mit einem Mann, der auch anschaffte. Wie hat sich geschäftlicher Sex von privatem unterschieden?

Bei Kunden waren Küsse tabu. Das war Sex ohne Emotion, im Grunde wie Staubwischen. Sex mit Andreas war romantisch und ungeschützt.

Haben Sie sich jemals in einen Kunden verliebt?

Nie. Es war, als hätte ich zwei Gehirne gehabt. Eines für das Leben als Sexworker, das andere fürs normale Leben.

Klingt jetzt so, als könne man Sex und Liebe trennen. Aber so richtig gelungen ist Ihnen und Ihrem Freund das doch auch nicht?

Stimmt, es gab immer wieder Eifersüchteleien. Aber ich glaube, man kann lernen, Sex und Liebe zu trennen. Also, ich kann es mittlerweile.

Wie haben Ihre Eltern und Ihre drei Geschwister erfahren, dass Sie als Callboy gearbeitet haben?

Ich habe es ihnen am Telefon erzählt, bevor ich das Buchprojekt angefangen habe. Es war gewissermaßen mein zweites Coming-out.

Wie hat Ihre Familie reagiert?

Geschockt, aber erleichtert. Sie meinten: Wir haben uns jahrelang gefragt, was du vor uns verbirgst. Jetzt ist es endlich raus.

Hat Ihre Mutter das Buch gelesen?

Sie ist auf Seite 30. Erst wollte sie es nicht in die Hand nehmen ...

... nicht verwunderlich. Gegen Ihr Werk liest sich Charlotte Roches "Feuchtgebiete" wie ein Sittenroman. Was sagt denn Ihr Arbeitgeber?

Mein Chef nimmt es mit Humor. Ich habe bei ihm die Erlaubnis eingeholt, dieses Buch veröffentlichen zu dürfen. Er meinte: Wissen Sie, ich habe damit kein Problem, aber Ihr Kunde werde ich nie.

Sie führen heute ein sehr bürgerliches Leben. Inwiefern haben die wilden Hamburger Jahre Sie geprägt, oder anders: Macht Sex noch Spaß?

Schon, aber Sex steht nicht mehr im Vordergrund. Ein Abend zu zweit, kuschelig auf dem Sofa, bedeutet mir mittlerweile mehr als ein kurzes Abenteuer.

Wie reagieren Männer, wenn Sie bei einem Date von Ihrem Vorleben erzählen?

Beziehungen sind schwieriger geworden, weil viele denken, ich sei gar nicht mehr bindungsfähig. Andererseits bin ich interessanter geworden, werde auf jede Party eingeladen, stehe im Mittelpunkt.

Warum haben Sie sich überhaupt öffentlich als Ex-Callboy geoutet? S ex sells ?

Ich wollte zeigen, dass Sexworker auch nur Menschen sind. Mal ängstlich, mal traurig, mal eifersüchtig, mal glücklich. Bisher kamen Callboys nur im Krimi als drogensüchtige Stricher vor. Außerdem ist Prostitution weiblich besetzt. Dabei gab es allein Ende der 80er-Jahre in Hamburg mehr als 3000 Sexworker.

... und offensichtlich viele Kunden.

Familienväter aus der Provinz haben mich als Callboy gebucht oder auch ein katholischer Priester. Klar, der kann natürlich nicht mal eben in eine Schwulendisco gehen.

Würden Sie wieder als Callboy arbeiten?

Die Versuchung ist riesig. Denken Sie an den letzten Satz in meinem Buch: Einmal Hafennutte, immer Hafennutte.

Und, können Sie der Versuchung widerstehen?

Ja, aber es ist wie eine Sucht.

Stellen Sie sich vor, Sie wären 20 Jahre alt, schwul und kämen aus der Provinz nach Hamburg. Würden Sie heute denselben Weg einschlagen wie damals?

Ohne Wenn und Aber.

Wieso haben Sie dann überhaupt aufgehört?

Ich musste die Reißleine ziehen, sonst wäre ich heute tot. Es wurde alles immer exzessiver, vielleicht hätte ich mich irgendwann mit HIV infiziert.

Die beste Resonanz auf Ihr Buch ...

... kam von meinem Bruder. Der meinte: Jetzt verdienst du zum zweiten Mal in deinem Leben Geld mit Sex.