Die sexuelle Revolution hat unsere Gesellschaft lockerer im Umgang mit der Lust gemacht. Doch wo sind wir hingekommen? Forscher beklagen die sexuelle Verwahrlosung und lustlose Paare. “Sex sells“ ist zum gesellschaftlichen Credo geworden. Aber sind wir auch befriedigt?

Vera Lengsfeld ist im Moment sehr bekannt. Vielleicht reicht ihr Name noch nicht aus. Wenn man aber an Busen, großes Dekolletee und Angela Merkel denkt, dann klingelt es bestimmt. Ja, es handelt sich um die CDU-Politikerin, die zusammen mit der Bundeskanzlerin auf einem Wahlplakat zu sehen ist. Beide dekorierte ein wirklich tiefer Ausschnitt, darunter die Botschaft: "Wir haben mehr zu bieten". Es ist Wahlkampf, und die Politikerin, die zu DDR-Zeiten als Bürgerrechtlerin auftrat, zeigt ziemlichen Körpereinsatz. Sie verschiebt damit nicht nur die Grenzen guten Geschmacks, sondern auch dessen, wie viel Haut im Wahlkampf bislang üblich war, nämlich gar keine. Zumindest nach Gabriele Pauli ist sie die erste Politikerin, die frei nach der Devise "Sex sells" auf Wählerstimmenfang geht. Dass das der Kanzlerin nicht so gut passte und inzwischen die meisten Plakate wieder abgehängt wurden, ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls hat diese Aktion Vera Lengsfeld zu bundesweiter Bekanntheit verholfen. Denn ein halb-blanker Busen, das gab es in der deutschen Politik noch nicht. In anderen Bereichen wie der Boxenluderbranche ist so ein Anblick gang und gäbe, und ohne zusätzliche Hotpants und High Heels braucht Frau, die dort Karriere machen möchte, gar nicht erst in die Fahrerbox zu stöckeln. Aber ob nun Boxenluder oder nicht, Vera Lengsfeld jedenfalls macht nichts anderes als viele andere Menschen in der Öffentlichkeit auch. Denn "Sex sells" ist zu einer müden Regel in einer Gesellschaft geworden, in der sich Spinat, Marmelade und Autos seit gut 20 Jahren prima über nackte Körper verkaufen lassen.

So ist es fast paradox, dass Sexualität sich öffentlich in immer schrilleren Formen zeigt, wie bei einem Popstar wie Lady Gaga, die bewusst mit Bühnenkleidung auftritt, welche bis vor Kurzem nur in Pornofilmen, in Rotlichtvierteln oder in Fetischkatalogen zu bewundern war. Auf der anderen Seite aber Sexualitätsforscher in deutschen Schlafzimmern immer mehr Sexunlust ausmachen wollen.

Lady Gaga nutzt der Überraschungseffekt ihrer Kleidung jedenfalls. Kein Bericht über sie lässt die Zutaten ihres momentanen Skandalfaktors aus: schwarze Korsage, Lack, blonde Perücke, Bondage-Look, schmale Taille und Overknee-Stiefel. Ähnliche Outfits lassen sich derzeit auch in Diskotheken, in denen Auftritte von Pornostars zum Wochenend-Programm gehören, bewundern.

Live-Sex gilt als der neueste Lockstoff, der die Jugend in die Klubs ziehen soll, von Deutschlands Osten bis Mallorca. Bislang werden die Performances noch eifrig mit dem Foto-Handy gefilmt. Doch auch dieses weitere Öffentlichmachen dessen, was früher nur im Privaten vor sich ging, könnte demnächst nur noch müdes Gähnen hervorrufen.

Denn in der Öffentlichkeit wird immer häufiger von einer sexuellen Abstumpfung und von Verwahrlosung gesprochen. Sexualforscher wie die Hamburger Professorin Hertha Richter-Appelt berichten, dass immer mehr Männer in die Sprechstunden des Instituts für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf kommen, die vor allem im Internet Pornofilme schauen und keine Lust mehr auf Sex mit ihrer eigenen Frau haben. "In pornografischen Videos sind die Frauen meist sehr schön, und sie machen auch sexuell ungewöhnlichere Sachen. Damit kann die eigene Partnerin dann nicht mithalten." In diesen Fällen habe die sexuelle Ermüdung in längeren Beziehungen ihre Ursache nicht nur in dem generell nach einer Weile geringer werdenden Verlangen, sondern eben auch in der Übersättigung durch Pornos. "Das führt zu einer Trennung von Liebe und Sex." Manche Menschen führten heute Beziehungen, in denen sie keinen Sex mehr haben. Auf der anderen Seite haben sie Sex mit Menschen, mit denen sie keine Beziehung führen. "Wir gewöhnen uns daran, dass Sexualität oft nichts mehr mit Nähe zu tun hat."

Das Magazin "Stern" hat vor einiger Zeit mit dem Artikel "Voll Porno" die "Generation Porno" ausgerufen. Der Bericht versuchte zu belegen, dass die Jugend sexuell verwahrlose. Auch die gerade gelaufene ARD-Dokumentation "Letzter Halt Sex" nahm sich dieses Themas an und zeigte, dass gerade Jugendliche in sozial schwächeren Verhältnissen sehr früh Sex haben und sehr häufig ihre Partner wechseln. Und dabei das wirklich Erschütternde, ohne viel dabei zu empfinden, ohne Gefühl.

Von einem generationsübergreifenden Phänomen sei laut Richter-Appelt aber keineswegs zu sprechen. Es treffe eben wirklich nur für bestimmte soziale Schichten zu. "Heute bemerken wir, dass soziale Verwahrlosung vermehrt mit sexueller Verwahrlosung einhergeht. Das war früher anders", sagt die Professorin.

Vor allem vor der Internetzeit sei es schwieriger gewesen, an Pornos heranzukommen. Entweder hatten die Eltern welche oder nicht. In einer Videothek wurde man nichts unter 18. Aber im Internet reicht die Eingabe der Suchwörter "Sex" und "Porno". Laut dem Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft ist "Sex", der am meisten eingegeben Suchbegriff der Jugendlichen, und 90 Prozent der acht- bis 16-Jährigen hätten sich schon Pornografisches im Internet angesehen. Zieht man weitere Statistiken hinzu, wird das Bild noch düsterer. Laut dem Verein Onlinesucht.de sind sechs bis neun Prozent der Deutschen onlinesüchtig. Und die Mehrheit dieser geschätzten rund zwei Millionen User onlinesexsüchtig. Laut Gabriele Farke, der Vorsitzenden: 60 Prozent. Hauptsächlich Männer bis 29 Jahren.

Und wenn Sex und Pornografie zur Sucht werden, führt dies nicht zu einer Befriedigung. "Der Konsum von Pornos oder viel Sex mit Personen, zu denen jemand keine Nähe fühlt, befriedigt vielleicht körperlich, aber nicht psychisch", sagt die Hamburger Professorin.

Und so schließt sich der Kreis, wenn Oswalt Kolle, Deutschlands bekanntester Sex-Experte, der erst im vergangenen Jahr zusammen mit dem Sender ProSieben mit einem "Sex-Report 2008" versuchte, dem Sexualverhalten der Deutschen auf die Spur zu kommen, sagt, unsere Gesellschaft sei zwar "oversexed", aber "underfucked". Für ihn sind wir zur "Masturbationsgesellschaft" mutiert.

Dass die Verbreitung von Pornografie die Einstellung der Deutschen zum Sex verändert hat, davon geht übrigens Kolles Sex-Report, an dem 55 000 Menschen teilgenommen haben, ebenso aus. So würden vor allem immer jüngere Menschen über eine Penisvergrößerung, Vaginalverkleinerungen oder Schamlippenkorrekturen nachdenken. Einer Studie des Magazins "Neon" zufolge antworteten auf die Frage: "Haben Pornos Ihr Sexleben beeinflusst?" 39 Prozent der Befragten im Alter von 20 bis 35 Jahren mit "Ja". Und auf die Frage: "Wie wirkt sich der Druck durch Mediendarstellungen, den eigenen Sex zu verändern, bei Ihnen aus?" sagten 45 Prozent: "Ich mache Dinge, von denen ich denke, dass sie erwartet werden", 36 Prozent gaben an, dass sie sich sogar anders anziehen.

Also, wir rasieren uns unseren Intimbereich, weil wir das zuerst in Pornos, dann bei "Big Brother" und dann sogar in der "Bravo" gesehen haben. Wer heute noch unrasiert daherkommt, fällt durch, so erwarten 61 Prozent ("Neon") zumindest eine Art des Brazilian (nur ein schmaler Streifen der Behaarung bleibt). Außerdem machen wir andere Sachen im Bett und haben diese in unserer Vorstellung auch schon mit viel schöneren Partnern als unseren eigenen gemacht, was wiederum weniger Lust auf das Erwartbare im eigenen Schlafzimmer bereitet. Und jetzt gehen einige von uns sogar in Diskotheken und haben dort vor anderen Gästen Sex. Was bislang nur in Etablissements wie dem Hamburger Live-Sex-Klub Safari angeboten wurde, allerdings nur von Profis für eine geschlossene Gesellschaft. Porno goes public. Und wer von so viel Sex in der Werbung, im Pop, im Internet, in der Disco, im Alltag umgeben ist, der glaubt vielleicht, genug Sex zu haben, nur eben real nicht. Dann bleibt uns restlichen "oversexed and underfucked" nur noch die FDP-Wähler zu beglückwünschen. Denn die haben laut einer Umfrage des Magazins "Cicero" am meisten Sex. 2,1-mal pro Woche! Vielleicht wollte Frau Lengsfeld mit ihrem Busenkonterfei nur der FDP die Wähler klauen. Ach so.