Wer früher mit Ende 20 noch nicht verheiratet war, galt als unvermittelbar. Noch immer gibt es den Brauch, dass Junggesellen den Rathausplatz fegen müssen. Doch das heutige 30 ist wie das frühere 20, sagt man. Diese Generation steht am Anfang von allem. Wie geht es diesen Hamburgern zwischen Krise, Familiengründung und Karriere?

Carsten Urban, 31 Jahre, Architekt

Hamburg. Ab kommender Woche muss Carsten Urban Bewerbungen schreiben. Sein Chef hat keine Verwendung mehr für den Architekten. Carsten, 31 Jahre alt, ein sportlicher, modebewusster Typ, nimmt es ihm nicht übel. "Er will sich mehr um seine Familie kümmern, nimmt deshalb weniger Aufträge an." Carsten zuckt mit den Schultern, Sorgen macht er sich nicht, Angst vor den Herausforderungen des Arbeitsmarkts hatte er nie. Er sitzt im Wohnzimmer seiner Altonaer Wohnung, in der er mit seiner Freundin zusammenlebt. Er ist ein bodenständiger Typ, aber auch neu- und wissbegierig. Er studierte an der Hochschule für Bildende Künste und jobbte nebenbei in Architekturbüros. Dass der Markt junge Architekten nicht mit Kusshand empfängt, wusste er. Auch seine Kommilitonen von einst hangeln sich von einem befristeten Job zum nächsten. "Vielleicht macht es mich ein bisschen nervös, dass es so viele Freiberufler gibt", sagt Carsten, wirkt dabei aber entspannt. Experte für energetische Sanierungen ist er. Das klingt so, als hätte es Zukunft. "Selbstständigkeit ist eine eher schwierige Alternative", sagt Carsten, aber er spielt mit dem Gedanken, künftig sein eigener Herr zu sein. Selbstverwirklichung ist ihm wichtig, klar, aber sein Privatleben darf nicht zu kurz kommen. Carsten will in Hamburg leben und eine Familie gründen - irgendwann. Das sei eines seiner Lebensziele, "der Wunsch reift beständig". Mit 20 habe er gedacht, er sei mit 27 Vater, aber: "Ich möchte mich von meiner Umwelt nicht unter Druck setzen lassen". Was ist mit dem Stichwort "Verlässlichkeit"? Ist wichtig, findet Carsten, "aber ich bin kein Spießer". Er denkt nicht oft im "Wir". "Heute sind alle eher individuell unterwegs, große Generationsströmungen gibt es nicht mehr." Schon gar keine Charaktereigenschaften, die nur 30-Jährige betreffen. "Die 40-Jährigen, die ich kenne, reden über dieselben Dinge."

Nadja Grichisch, 34 Jahre, Politologin

Als 20-Jährige hat Nadja Grichisch noch bei Lagerfeuer Protestlieder auf ihrer Gitarre gespielt und ist nach Israel gegangen, um behinderte Jugendliche und Kinder zu betreuen. Unentgeltlich. Als Jugendliche war sie bei den Pfadfindern, während andere in ihrem Alter anfingen, sich für Jungs, Klamotten und Ausgehen zu interessieren. "Das war eine gute Zeit, ich habe eine Menge über das Leben gelernt!", sagt sie. Heute ist sie 34 Jahre alt, lebt mit Lebensgefährte und Tochter Antonia (2) in Altona. Ein zweites Kind kommt bald auf die Welt. Bei Nadja sind die Voraussetzungen für eine akademische Karriere eigentlich gelegt: Nach dem Auslandsaufenthalt kam das Studium, Islamwissenschaft und Politik, die auch außerhalb der Seminarräume eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Sie hat sich bei amnesty international für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und bei den Grünen für die Umwelt. 2004 schloss sie ihr Studium mit Bestnoten ab. Einen Job hat sie trotzdem noch nicht gefunden. Doch ihren Willen, Optimismus und Pragmatismus dennoch nicht verloren. "Ich versuche es weiter, und bis dahin: Geld verdienen mit Jobs, schließlich habe ich Verantwortung", sagt sie. Zurzeit arbeitet sie in einem Callcenter. Hochqualifiziert, motiviert - und joblos. Worte, die Nadja Grichisch und ihre Generation wohl wie keine zuvor am besten beschreiben.

Natalia Palacios, 31 Jahre, Dolmetscherin

Die Generation 30 macht den Eindruck, als könnte ihr die ganze Welt zu einem Zuhause werden - und der Eindruck trügt nicht, schließlich ist die Welt in Zeiten von Internet, Skype und Iphones, den Leitmedien der 30-Jährigen, zu einem globalen Dorf geschrumpft. Wer heute beruflich weiterkommen will, muss flexibel sein. Früher war man das schon, wenn man bereit war, innerhalb Deutschlands für den Job umzuziehen. Heute erwarten viele Firmen die Bereitschaft, innerhalb Europas oder noch weiter den Wohnort für den Traumjob zu wechseln. Für Natalia Palacios war die Flexibilität und das Umziehen der eigentliche Normalzustand. Als Kind wuchs sie in Hamburg-Farmsen, Marokko und Spanien auf, weil ihr Vater, ein spanischer Handelsvertreter, selbst auch schon viel für seinen Beruf unterwegs war. Palacios Lebensweg war durch viele Länder und Sprachen vorgezeichnet. Während des Studiums verbrachte sie mehrere Semester im Ausland. Ägypten, Türkei, Spanien. Spanisch und Französisch spricht sie fließend, auf Türkisch und Arabisch kann sie sich gut ausdrücken. Sie entschied sich, dass Sprachen ihr Beruf werden sollten. "Doch nach dem Studium musste ich feststellen, dass Deutschland für mich nicht die richtige Ausbildungsmöglichkeiten bot", sagt sie. Also zog sie in die Schweiz und besuchte in Genf die "Ecole de Traduction et d'Interprétation." Die Ausbildung war straff und effektiv. So effektiv, dass Palacios heute für das Europäische Parlament dolmetscht. Ihr heutiger Wohnort: Brüssel. Vorerst.

Enning, 30 Jahre, Praktikant

Sicherheit? Nicht nötig. Lieber glücklich sein, findet Enning, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Als Rettungssanitäter im Krankenhaus in Lübeck war er finanziell abgesichert. Urlaubs- und Weihnachtsgeld, unbefristete Anstellung. Doch das Arbeitsklima stimmte nicht. Schichtdienst war auch nicht die Erfüllung. Schon gar nicht, wenn der gebürtige Schweriner abends mal auf einer Party Musik auflegen wollte. Als ihn dann noch seine Freundin im vergangenen Jahr verließ, war es Zeit für einen Neustart. Enning kündigte und zog nach Hamburg - für ein schlecht bezahltes Praktikum in der Musikbranche. Ein Praktikum, für das er morgens gern aufsteht. Die Kollegen sind nett. Und die Musik ist sein Leben, mehr als nur Liebhaberei. Schon in der Schule hat er seine selbst aufgenommenen Tapes auf Partys abgespielt. Besonders Techno, der Soundtrack der Wiedervereinigung, hat es ihm angetan. Natürlich haben seine Eltern für die sichere Variante plädiert. Aber die haben schon größeren Ärger mit ihm und seinem großen Bruder gehabt. Früher hätten sie viel Scheiße gebaut, sagt der gelernte Autolackierer. Doch das ist Vergangenheit. Mit den Jungs von damals hat er kaum noch Kontakt. Auch das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Alte Freunde gehen, neue kommen. An eine eigene Familie denkt Enning noch nicht. Planen ließe sich das sowieso nicht. Erst einmal die Ausbildung zum Kaufmann für audiovisuelle Medien machen. Der Rest kommt dann von ganz allein.

Jens Huelmann, 32 Jahre, Weinhändler

Das ist er, der Soziologe, der demnächst Weinhändler sein wird: Jens Huelmann. Er trägt einen Grunge-Bart und eine randlose Brille und ist ein Genussmensch mit kräftiger Statur. Huelmann stammt aus Schwarzenbek und lebt seit vielen Jahren in Bremen, bald zieht er nach Hamburg. In der Bramfelder Chaussee macht er im Juli einen Weinladen auf, Jacques' Weindepot. Sein Studium hat er noch nicht beendet, aber der Schritt in die Selbstständigkeit kommt für ihn zur rechten Zeit. "Angst habe ich keine, trotz Wirtschaftskrise", sagt Jens selbstbewusst. Seit vier Jahren arbeitet er in einem Weingeschäft in Bremen-Borgfeld. Vorher fuhr er Taxi und träumte davon, vielleicht mal ein Restaurant zu eröffnen. Jetzt wird er Weinverkäufer mit eigener Handelsagentur. Und freut sich drauf, "obwohl ich weiß, dass die ersten Jahre anstrengend und finanziell sehr hart werden". Vielleicht beginnt nun, nach ausführlichem Studium - "Ich will unbedingt noch meinen Magister machen" - der wirkliche Ernst des Lebens. Ach Quatsch, das hat er schon längst, sagt Gesellschaftswissenschaftler Huelmann, "der große Spaß ist lange vorbei, wer im Supermarkt auf die Preise achtet, ist erwachsen". Und was sagt er, der Soziologe, zur "Generation V"? "Wenn, dann steht ,V' für ,virtuell', findet Jens, der übrigens nicht jeden Tag E-Mails checkt oder twittert. Manchmal hat er den Eindruck, dass er zu unpolitisch ist, "ich war noch nie der Demo-Typ". Dafür findet er, dass "spießig" nicht unbedingt ein Schimpfwort ist. Die Zeit der Träume ist vorbei, ab jetzt gilt die Realität -"und die gefällt mir".

Katharina Kopitzsch, 30 Jahre, Bürokauffrau

Ob sie ein Problem mit ihrem 30. Geburtstag hatte? Bestimmt nicht. Katharina Kopitzsch freut sich auf jedes Lebensjahr, sie versucht im Jetzt zu Leben. Ihr Alter ist ihr egal. Die wilden Jahre bereits hinter ihr. WG-Leben, monatelange Reisen durch Schottland und Australien, 2001 der Umzug von Rügen nach Hamburg, der Arbeit wegen, ein neuer Freundeskreis, Männerbekanntschaften, Partyexzesse, Krisen. Das alles gehört der Vergangenheit an. Die Liebe zu einer Frau hat ihr Leben verändert. Als die Bürokauffrau ihre heutige Partnerin Melanie Stier (29) auf einer Party kennenlernte, verhakelten sich ihre Gürtel beim Tanzen. Liebe auf den ersten Blick. Nach drei Tagen hatte sich Katharina Kopitzsch von ihrem Grundsatz, niemals zu heiraten, verabschiedet. Das Paar zog in eine gemeinsame Wohnung nach Bramfeld. Katharina arbeitet bei einem großen Wohnungsunternehmen in Hamburg. Der Job macht ihr Spaß. Doch ihrem Traum vom Leben auf dem Land und der Arbeit mit Tieren bringt er ihr nicht näher. Und so meldete sie sich im Studiengang für Tierpsychologie an. Im Oktober macht sie ihren Abschluss. Dann würde sie am liebsten nur noch halbtags in ihrem jetzigen Job arbeiten, damit sie sich nebenbei einen Kundenkreis als Tierpsychologin aufbauen kann, für Hunde, Pferde und Katzen. Im selben Monat wird sie ihre Freundin Melanie heiraten.