Der farbenprächtige Canyon - erhaben, wie es nur Natur sein kann; der Hirsch, stolz und vollkommen und jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit: ihnen allen gebührt Respekt. Den Schwachen wie den Starken. In den vergangenen Wochen war nicht immer viel davon zu spüren. Wir haben einen Schwerpunkt zum Thema Respekt gemacht. Wir dachten, es wäre an der Zeit.

Klein sind sie, so groß wie die Kopfsteinpflastersteine im alten Straßenbelag, den es nur noch selten in Hamburg gibt. Sie sind messingfarben, angelaufen, verschmutzt oder blitzblank - je nachdem, wie lange sie da schon liegen, in den Gehwegen, eingebettet in die Muster aus Steinen, die zum jeweiligen Hauseingang führen. Vor manch einem Haus sind es fünf oder sechs, auch mehr - gerade an der Isestraße und in ihrer Umgebung. Die "Stolpersteine" tragen Namen, eingraviert, dazu Geburtsdatum, manchmal das Sterbejahr und den Ort, an dem Fanny, Luise oder Walter ums Leben gekommen sind. Theresienstadt oder Lodz, Auschwitz auch.

Sie kennen sie sicherlich alle. Es ist kein Problem, an diesen Steinen vorbeizugehen. Sie bergen keine Gefahr, lassen die Passanten nicht wirklich stolpern, mahnen nicht blendend, sondern sind über die Zeit oft so nachgedunkelt, dass sie kaum zu erkennen sind. Natürlich fehlt uns die Zeit, alle paar Meter stehen zu bleiben, das Haupt zu beugen, um zu erfahren, wie die Menschen, die einmal Nachbarn waren, gestorben sind, weil sie Juden waren. Wer das aber ab und an tut und dabei versucht, sich vorzustellen, wie Kinder aus dem Haus getrieben und am Dammtor zur Deportation in Züge verfrachtet wurden, wer darüber nachzudenken versucht, der kennt das Gefühl, das nach der Scham. Es ist ein Gefühl von Respekt. Groß, und etwas dunkel. Respekt vor denen, die haben leiden müssen an Angst und Demütigung. Am 1. April vor 75 Jahren wurden die "Deutschen" aufgerufen, "nicht bei Juden" zu kaufen, die Läden, Andersglaubender zu boykottieren. Heute erinnern Messingklötze an die Ladenbesitzer. Aus Respekt, wenigstens, treten wir nicht auf die Stolpersteine, suchen unseren Weg um sie herum. Wenigstens das.

Wie nur war der Respekt abhanden-gekommen? Und was hat das aus Deutschland gemacht? Woher wissen wir, ob Respekt fehlt? Was ist das überhaupt: Respekt?

Vielleicht ist Respekt das, worum sich heute noch alles dreht. Rücksicht auf etwas, auf anderes und andere nehmen. Im Lateinischen heißt es respicere, sich umschauen, das Sich-mit-anderen-beschäftigen, damit, wer es ist, der da neben einem steht. Beobachten, wie er sich verhält, was er tut und was er zu mögen scheint, um es zu verstehen. Was er ablehnt auch. Daraus, aus diesem Hinschauen ergibt sich ein Bild. Ein Bild, das mir nicht gefallen muss, das ich nur zu achten habe, als das besondere Bild dieser Person - das Bild ihrer Einzigartigkeit. Ihr Abbild, das nicht ein äußeres ist, sondern viel mehr: auch das ihrer Art und Fähigkeiten, Lieben und ihrer Unzulänglichkeiten. Ein persönliches menschliches Bild, wie es das von jedem geben muss.

Dieses Abbild des Anderen erkennen und vor dem eigenen Auge entstehen zu lassen lohnt immer. Im Privaten wie im Geschäftlichen. Dem anderen zu begegnen, wird einfacher, wenn ich die Wege zu ihm kenne. Spreche ich deine Sprache, verstehst du mich auch. Ebenso ist es mit den Abbildern. Kann ich dich lesen, dich erkennen, verstehe ich dich. Achte ich dich.

Zumal Respekt auch das ist: Die Grenzen, die der andere hat oder setzt, zu erkennen, sie zu achten. Ich kann von meinem Gegenüber keine Initiative, nicht Widerstand oder Heldentum erwarten, wenn der nicht die Kraft oder das Wissen oder die Möglichkeit hat, dies auch zu leisten. Der Mensch in seiner Einzigartigkeit, in seiner Andersartigkeit verhält sich nun mal nicht gleich, sogar dann nicht, wenn er die gleiche Wertevorstellung hat wie ich. Und trotzdem darf der Respekt nicht ver-loren gehen. Er ist eine Voraussetzung des Zusammenlebens, im Privaten wie in der Gemeinschaft und in der Politik. Freiherr von Knigge hat einst die Bedeutung der Wechselwirkung von respektvollem Verhalten betont. "Interessiere dich für andere, wenn du willst, dass andere sich für dich interessieren sollen", schrieb er und beschrieb damit ein Gleichgewicht, das für die Sicherheit moderner Gesellschaften unabdingbar ist. Menschen müssen in ihrer Besonderheit beachtet werden, um geachtet zu werden. Achtung braucht es, weil sie Freiheitsräume schafft, in dem sich jeder entfalten kann. Diese Selbst-bestimmtheit, wenn sie gegenseitig zugestanden wird, ist tragende Säule der Gesellschaft. Und Respekt, quasi ihr Fundament, ist, was den Menschen zum Menschen macht: gelebte Humanität.

Allerdings sind es genau diese Werte, Humanität, Menschenrechte, Freiheitsrechte, bei denen der Respekt an seine Grenzen stoßen kann. Da kann es schwierig werden, Respekt zu empfinden, zu wahren, auch wenn man sich ihm verpflichtet hat. Die Vereinten Nationen, zum Beispiel, haben sich in ihrer Charta darauf geeinigt, die internen Belange eines jeden Landes zu respektieren. Diese Festlegung markiert die Grenze, die zu überschreiten das Ende des Respekts wäre. Wer respektiert, diskutiert Grenzen, ehe er sie verletzt.

Was ist dann aber mit China und dem Konflikt mit den Tibetern, den der Dalai Lama als kulturellen Völkermord bezeichnet? Ist Nichteinmischen hier möglich, weil die Chinesen die Tibeter als "innerstaatliche Angelegenheit" ansehen und wir als Demokraten China den Respekt nicht schuldig bleiben dürfen? Oder muss ein westlicher Staat, müssen wir, die wir uns mit Immanuel Kant der Unantastbarkeit der Würde des Menschen verpflichtet haben, aktiv werden? Aus Respekt vor unseren mühevoll errungenen Werten?

Kehren wir zurück ins wirklich wahre Leben und sehen, was sich diesseits der Theorie ausrichten lässt. Natürlich gäbe es die Möglichkeit, "Chinesisches" zu boykottieren. Wenn man es aber nicht damit getan sein lassen will, hier in Hamburg kein Hühnerfleisch mit Sojabohnen zu essen, wird es schon schwierig. In jedem elektronischen Gerät, das uns das Leben leichter macht, in jedem T-Shirt, das wir nun zum Frühling aus dem hinteren Teil des Schranks ziehen, ist ein bisschen China. Übrigens kommen im Hamburger China-Restaurant deutsche Hühner in den Topf des Wirtes, der auch Hamburger ist. Vielleicht wohnt er sogar in der Nachbarschaft.

Daneben aber ist das Respektieren der Angelegenheiten Chinas kein Akzeptieren der Missachtung von Menschenrechten. Offene Worte zu diesem Thema, jetzt auf dieser Bühne der Ereignisse vor den Olympischen Spielen, an China gerichtet, würden das verdeutlichen. Respektlos wären sie nicht, nur ehrlich und zeigten Respekt vor der Würde der Tibeter und vor uns selbst. Respekt fordert diese offenen Worte eher, als dass er sie verbietet.

Folgt aus alledem, dass der Einzelne Respekt nur aktiv vor den Menschen in seinem Umfeld haben kann? Ist Respekt als vollkommener Wert Utopie? Eine Utopie ist noch keine Illusion, sondern ein Teil der Realität von morgen. Sie ist hier Wunsch und als solcher anstrengend, wenn man sie Wirklichkeit werden lassen will. Für die Fortentwicklung einer Gesellschaft, deren Zusammenhalt auf Humanität beruht, ist dieser Wunsch bedeutsam. Das Wichtige am Respekt nämlich ist der Wunsch, respektieren zu wollen. Der Wunsch, die Andersartigkeit eines Menschen oder einer Gruppe zu erkennen und zu akzeptieren. Wie auch das Streben danach. Und trotzdem darf sich keiner, nicht die Gesellschaft, nicht ich als Einzelner, auf dem Wunsch ausruhen. Respekt, "Rücksicht" allem anderen gegenüber, bewahrt nicht davor, darüber hinauszugehen. Das kann bedeuten, sich bei allem Respekt einer Person oder einer Gruppe entgegenzustellen, die allgemein anerkannte Werte des demokratisch verfassten Gemeinwesens missachten. Wann das geboten ist, wo also die Grenze des Respekts verläuft, ist dann eine Frage des Wissens um Werte und Regeln und eine Frage des Gewissens. Wer hier richtig entscheidet, verdient Respekt.