Die wiedervereinte Republik ist bald zwei Jahrzehnte alt. Unterschiede zwischen Ost und West mögen verblassen, und doch gibt es sie - augenfällig in Städten gleichen Namens. Was trennt Weimar (Thüringen) von Weimar (Hessen), was Heidelberg (Baden-Württemberg) von Heidelberg (Brandenburg)? Der Fotograf Reto Klar und sein Vater Dieter haben eine ungewöhnliche Deutschlandreise gemacht. Das Journal stellt einige ihrer Bilder in einer Serie vor. Heute: zweimal Eisenach.

Schon Kilometer vor der Autobahnabfahrt Eisenach beherrscht die Wartburg das Bild. Sie thront über Eisenach und seinen knapp 44 000 Einwohnern. Burg und Stadt sind mit der deutschen Geschichte verkettet. 1521 und 1522 übersetzte Martin Luther hier das Neue Testament vom Lateinischen ins Deutsche. 1817 trafen sich hier die Burschenschaftler. In Eisenach gründeten August Bebel und Karl Liebknecht 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Und natürlich war auch Goethe hier. Zu DDR-Zeiten wurde hier der legendäre Wartburg produziert.

Martin Luther ist freundlich, offen und zuvorkommend. Wie Vertreter eben so sind. Am Abend zuvor ist der 59-Jährige erst aus Ueckermünde, das an der Odermündung liegt, zurückgekommen. Jetzt steht er auf der Wartburg oberhalb von Eisenach und schaut einen lächelnd an. Für seine Ofenbau-Firma aus dem Hessischen bereist er die fünf ostdeutschen Bundesländer, pflegt den Kontakt mit Kunden und ist stolz darauf, dass seine Firma in dem "schwierigen ostdeutschen Markt" inzwischen ganz gut vertreten ist. Für Martin Luther, dessen Familie in indirekter Linie von dem berühmten Reformator abstammt - über mehrere Generationen hinweg ist er mit dem Bruder von Luthers Vater verwandt - sah es dabei zum Zeitpunkt der Wende gar nicht so gut aus. Der studierte Datentechniker hatte nach dem Studium zunächst gute Anstellungen, arbeitete auch als Parteisekretär, aber als die Wende kam, musste er raus. Er entschied sich, das Angebot eines Freundes anzunehmen und "verkroch" sich für drei Monate bei der Arbeit im Forst.

"Dort habe ich Tag für Tag gegrübelt", erzählt Luther. Wie sollte es jetzt weitergehen? Mit ihm? Mit der eigenen Familie? Mit dem Land? "Da war eine Welt zusammengebrochen, für die ich gelebt und gearbeitet hatte, und nun war alles völlig unklar." Luther spricht von "einem Loch", in das er unmittelbar nach der Wende gefallen sei, und von der Perspektivlosigkeit für einen wie ihn, "mit dem Image eines Parteisekretärs".

Nach der Wende sei er "nur ganz selten" wegen seiner Vergangenheit "angefeindet" worden, erzählt Luther. Schwieriger sei dagegen für ihn gewesen, sich mit den veränderten Verhältnissen anzufreunden. "Am Abend, als die Mauer fiel, ist meine Frau mit unserem Nachbarn in den Westen gefahren. Ich bin hiergeblieben, ich war einfach noch nicht so weit." Betrogen habe er sich gefühlt, erzählt er weiter. Diffus sei das Gefühl gewesen, aber stark, so als sei er in einer Sackgasse gelandet.

Was folgte, sei ein "tiefes, hartes Ringen" gewesen: "Bis man seinen Weg gefunden hatte." Wie Martin Luther das sagt, klingt es einfach. So einfach aber dürfte es kaum gewesen sein. Er habe den Sozialismus nie infrage gestellt, meint er und will sich damit von jenen "Revoluzzern" unterscheiden, die nach der Wende erklärten, sie hätten es schon immer gewusst, dass es mit dieser DDR nichts werde, und seien ja eigentlich gar nicht dafür gewesen. Politisch aktiv sei er nicht mehr, aber: "Mein Herz schlägt links."

Wer jetzt ein Hohelied auf die "gute, alte Zeit" erwartet, wird enttäuscht. In dieser DDR und vor allem für sie gelebt zu haben, bedeutet für ihn nicht den Verzicht auf kritische Reflexion. "Ich schäme mich für den Repressionsapparat der Staatssicherheit", sagt Luther. Das klingt ein wenig leicht dahergesagt, aber Bitterkeit mischt sich in seine Stimme, als er davon erzählt, wie er als Parteisekretär bei Jahrestagen "mit einem Blumenstrauß den Tschekisten" gratuliert habe.

Das Eisenach des Westens versteckt sich in einer Senke der Eifel. Ganze 400 Einwohner leben in diesem rheinland-pfälzischen Flecken, wo die freiwillige Feuerwehr noch mit einem Löschtrecker ausrückt und die Bauern überwiegend Rinder züchten. Dass Europas Finanzzentrum Luxemburg gerade mal zehn Kilometer entfernt ist, ahnt man nicht. Alles überragend ist auch hier ein Turm: der Kirchturm von Eisenach.