Vor 20 Jahren verschwand der Eiserne Vorhang, mehr als 70 000 Menschen kamen aus der Sowjetunion nach Hamburg. Sie haben sich in der neuen Heimat eingerichtet, arbeiten, feiern eigene Partys und beten in eigenen Gotteshäusern. Die Jungen wollen ihre Chancen nutzen, viele Ältere trauern dem früheren Zuhause hinterher. Besuche bei Menschen aus Russland.

Große, viel befahrene Straßen soll es in diesem fernen, sagenhaften Land geben. Und Ampeln, die auf Grün schalten. Nur für den, der da gerade über die Straße will, für ihn allein. Dieses Deutschland ist ein Schlaraffen-, ein Wunderland. Ein Land, das anders ist als Kasachstan. Reicher, sauberer, ordentlicher, schöner.

Katja Hille grinst, wenn sie daran denkt, was sie als Jugendliche in der Sowjetunion für Vorstellungen vom Land ihrer Vorväter hatte. "Wir hatten keine Ahnung", sagt sie. Sie sitzt in einem Cafe in der Schanze, draußen ist es bitterkalt. Sie bestellt sich einen Tee und beginnt zu erzählen, wie gut es ihr in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland ergangen ist: "Hier habe ich Chancen bekommen, die ich in Kasachstan nie bekommen hätte."

Katja Hille ist jung, für sie war Deutschland wirklich das gelobte Land. Aber ihre Geschichte ist nur eine von vielen, und längst nicht alle haben sich leichtgetan mit der Suche nach Identität in dem neuen Umfeld. Die Hoffnung auf ein besseres Leben hatten alle, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. 70 000 Menschen aus Russland und den übrigen Ländern der einst mächtigen Sowjetunion sind es, die allein in den vergangenen 20 Jahren nach Hamburg gezogen sind. Mehr als drei Millionen kamen insgesamt nach Deutschland. Russen, Juden, vor allem aber Russlanddeutsche auf der Suche nach einem Neuanfang.

Für das wiedervereinigte Deutschland war das eine Art Wiedergutmachung. Denn die "Wolgadeutschen", die Zarin Katharina die Große im 18. Jahrhundert im Süden Russlands und in der Ukraine angesiedelt hatte, wurden schuldlos in die Nationalitätenpolitik des Zweiten Weltkriegs verstrickt. Nach dem deutschen Überfall auf Russland schickte Stalin die Deutschen in die unwirtlichen Regionen Kasachstans und Usbekistans. Oder ins Arbeitslager. Damals konnte noch niemand ahnen, dass ein halbes Jahrhundert später eine kleine Völkerwanderung zurück nach Deutschland einsetzen würde. Eine Völkerwanderung, die besonders in Berlin, aber auch in Hamburg ihre Spuren hinterließ. Es gibt hier russische Kirchen, russische Supermärkte, russische Diskoabende, russische Rechtsanwälte, russische Ärzte. Und in Stadtteilen wie Neu-Allermöhe kommt es vor, dass einem beim Spazierengehen nur Russisch sprechende Fußgänger begegnen.

Es gibt ein russisches Hamburg, und Katja Hille ist ein Teil von ihm. Sie hat wache, grüne Augen. Braunes, halblanges Haar, das sie beim Reden beiläufig zurückstreicht. Gestern hatte sie Theaterprobe, heute muss sie nicht an die Uni. Sie überlegt, was ist eigentlich die erste Erinnerung an Deutschland? Vielleicht das altmodische, schwäbische Deutsch der Großmutter. Der war es wichtig, dass die Enkelin ihre deutschen Wurzeln nicht vergisst. Aber "deutsch" zu sein ist uncool in Schesqasghan, wo Katja aufgewachsen ist. Es ist ein altes Deutschland mit alten Traditionen, das die Nachfahren der Einwanderer weitergeben, und Katja will so russisch sein wie ihre Freunde, einige von ihnen tragen wie sie einen deutschen Namen. Sie macht eine Ausbildung als Hebamme, hat ihren ersten Freund, lebt ihr Leben. Die Sowjetunion bricht zusammen. "Es war immer klar, dass wir irgendwann nach Deutschland gehen", erinnert sie sich. Und sie will das: Kasachstan verlassen, anderswo ihre Träume verwirklichen. Sie will studieren, sie will frei sein. Zuletzt arbeitet sie in einem Krankenhaus. Wie andere Russen und "Deutsche" gehört sie zum niederen Personal, die Kasachen besetzen die Chefpositionen, "da gab es kein Weiterkommen". Überhaupt, das Land, das sie verließ, war ein seltsames, chaotisches. Und auch ein gefährliches. Ein Land, in dem es Einbrüche, Morde gab, in dem eine junge Frau nicht alleine zur Bushaltestelle gehen konnte.

1998 kommt sie in Hannover mit dem Flugzeug an und landet nach dem Aufenthalt in zwei "Erstaufnahmelagern", wie es im Bürokratendeutsch heißt, im schleswig-holsteinischen Schwarzenbek. Sie ist nicht allein, ihre Mutter und Großmutter sind bei ihr. Es macht ihr nichts aus, dieses anfängliche Leben auf dem Verschiebebahnhof. Im Gegenteil. Katja macht in Duderstadt ihr Abitur nach, fängt in Hamburg an, Gesundheitswissenschaften zu studieren. Sie schlägt zunächst das Tempo an, das sie aus Kasachstan gewohnt ist. Sie arbeitet als Streetworkerin, betreut kulturelle Projekte in Russland und spielt Theater. In Kasachstan, sagt sie, muss man mit 20 schon etwas sein. "Hier in Deutschland bekommst du einen Bonus von zehn Jahren." Und es ist beinahe ein Jubeln, mit dem Katja sich jetzt in die Garnitur des Cafes legt. "Wie entspannt hier alles ist im Vergleich zu Kasachstan", entfährt es ihr. Sie ist nie mehr in dem Land gewesen, in dem sie geboren wurde. Ein paar Mal war sie in Moskau, und es gefällt ihr da, sie fühlt eine Nähe zum ruppigen Charme Russlands. Sie hat deutsche und russische Freunde in Hamburg. Die Deutschen sagen manchmal zu ihr: "Du bist sehr direkt, du verstellst dich nicht." Das ist das Russische an ihr, sie hat es nie abgelegt. Ein Mitbringsel in die neue Welt, die andere Dimensionen hat als nur Deutschland. "Ich will überall zu Hause sein, auch in Spanien oder Frankreich", sagt sie. Ihr Studium muss sie bald mal beenden, findet sie, nächsten Monat wird sie 29. Sie hat so lange studiert wie ihre hier aufgewachsenen Kommilitonen. Sie ist angekommen.

Wenn Yuri Solovei heute am Hamburger Flughafen ankommt, dann schnauft er erst einmal durch. Endlich zu Hause. Russland liegt, wieder einmal, hinter ihm. Die Heimat, die ihm fremd geworden ist, mit einem Kapitalismus, der wie eine Bombe auf das Land abgefeuert wurde. Solovei schüttelt mit dem Kopf - was für ein Durcheinander! Die vielen Geschäfte in Moskau, die teuren Restaurants, die dicken Autos. Jetzt sitzt er zusammen mit seiner Frau Rimma Chibaeva im grellen Licht einer Halogenlampe in einem schmucklosen Raum in Altona. Hier, in diesem Film- und Kunststudio, hat der Russe vor knapp einem Jahr seine letzte Ausstellung gehabt. Das Geschäft lief früher gut. "Jetzt nicht mehr", sagt seine Frau, die in Russland eine Theaterschauspielerin war. Früher. Solovei, 59, hat einen Vollbart, der fast schon ganz weiß ist, und eine hohe Stirn mit einer kleinen Haarinsel in der Mitte. Er ist Maler und Bildhauer. Neorealistischer Künstler. 1998 siedelte er nach Deutschland über. In Russland wollten er nicht bleiben. "Zu viel Kriminalität", sagt Solovei. Chibaeva übersetzt, ihr Mann kann kein Deutsch. Sie selbst hat die Sprache auf der Straße gelernt. "Aber mein Akzent ist zu stark." Zu stark, um auf der Bühne zu stehen. Heute hilft sie ihrem Mann, dessen Hände mit einem Feuerzeug spielen und dabei zittern. Sie hilft ihm, sich auszudrücken, während er mit seinen Fingern zwei imaginäre Kreise auf den Tisch malt. Der eine Deutschland und der andere Russland. Dann haut er mit einer Hand in die Mitte. "Da ist mein Herz", sagt er plötzlich doch auf Deutsch. Seine Frau seufzt und steckt sich eine Zigarette an. Der Rauch hängt schwer zwischen ihr und Yuri. Chibaeva sagt, dass sie mehr russische als deutsche Freunde hätten. Und Sehnsucht nach Russland. Doch ein Zurück gibt es nicht. "Dort haben wir gar nichts mehr. Kein Haus, keine Arbeit, nichts."

Hamburg, Neu-Allermöhe. Mathilda, die Perserkatze, ist eine Deutsche, sagt Maria Stoll. Mathilda schnurrt um ihre Beine und tapst über den Laminat-Fußboden. Stoll wohnt seit einem halben Jahr in ihrer kleinen Wohnung, sie hat es sich nett gemacht in dem südöstlichen Stadtteil von Hamburg. Mit Blumen, in Vasen und auf die Tapete gedruckt. Weißes Sofa, schwarzer Tisch. Vorher hat sie in Bergedorf und in Schleswig-Holstein gewohnt. Und davor in Taschkent, Usbekistan. Als Teil der deutschen Minderheit. "Da waren wir stolz drauf, auf das Deutschsein", sagt die 43-Jährige. Sie wollte in diesem Land leben, von dem sie wusste, dass die Knödel aus ihm kommen. Und in dem man "Gute Nacht" sagt. Das waren fast die einzigen deutschen Wörter, die sie sprechen konnte, als sie 1994 nach Deutschland kam. Die Mutter, die Geschwister und deren Familien, die eigene Familie mit den zwei Kindern: Es war eine ganze Sippe, die in einem fremden Land einen Neuanfang wagte. Dort ging es Stoll schlecht, zwei Jahre lang weinte sie nur. Weil sie alles aufgegeben hatte: die Wohnung, die Freunde, den Job als Moderatorin beim Fernsehen. In Deutschland waren ihre Qualifikationen nichts wert, sie holte sich bei ihren Bewerbungstouren nur Absagen. Aber als sie noch einmal nach Usbekistan reiste, stellte sie fest: Das war nicht mehr ihr Zuhause. Es hatte sich vieles verändert, sie vertrug das Essen nicht mehr. "Ich hatte mich an Deutschland gewöhnt", erinnert sich Stoll. Nachdem sie in Hamburg Veranstaltungen für ihre russischen Landsleute organisiert, bei einer russischsprachigen Zeitung und als selbstständige Trockenbaumonteurin gearbeitet hat, hat sie mittlerweile eine Beschäftigung im Kinder- und Familienzentrum Neu-Allermöhe. Dort leben, wie in Nettelnburg und Lohbrügge, viele Russen. Aber eigentlich stört sie das. "Das finde ich nicht gut, dass hier so viele Russen sind", erklärt sie. Obwohl die meisten ihrer Bekannten dieselbe Geschichte haben wie sie. "Wir mögen Deutschland, haben aber viel verloren, weil wir nicht mehr wissen, wo unsere Heimat ist."

Sie sind Deutsche gewesen in Russland, und in Deutschland sind sie Russen.

Und deswegen will Stoll eigentlich "etwas Drittes" sein. Weder Deutsch, noch Russisch. Und russische Limonade trinken. Der Geschmack, er ist ihr Zuhause.

Die Sehnsucht nach Russland, nach ihrem, dem schönen Russland, kennt auch Tatjana Lidokhover. Die Sehnsucht lässt sie an diesem Freitagabend im Knust aufleben. Seit acht Jahren veranstaltet die gebürtige St. Petersburgerin mit ihrem Bruder und drei Freunden regelmäßig die "Datscha-Party". "Es enttäuscht uns, wie Russland oft dargestellt wird. Aggressiv, traurig oder rückständig. Wir möchten das junge, aufgeschlossene Russland präsentieren", sagt sie. Der Musikclub im alten Schlachthof im Schanzenviertel füllt sich langsam, nicht nur mit jungen Russen. Es ist gegen Mitternacht. Die Band Delladap steht seit zwei Stunden auf der Bühne. Ihre Musik, traditionelle Zigeunerklänge mit modernen Elementen, wird vom Gesang zweier russischer Sängerinnen begleitet. Die Menge tanzt wild, wilder als es die Musik erfordert. Inbrünstig irgendwie. Die Rückkehr nach dem schönen Russland von Tatjana Lidokhover kostet zwölf Euro. Dafür bekommt der Besucher den Einreisestempel mit Stern und der Aufschrift "CCCP" darauf. Eine Erinnerung an nicht ganz so aufgeschlossene Zeiten in der alten Heimat. "Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik". Einst Symbol für Kalten Krieg, KGB, Gulags, steht CCCP an diesem Abend für den Eintritt in ein altes Russland, das den Sprung in ein neues Zeitalter geschafft hat.

Auch Tatjana hat den Sprung in dieses Zeitalter, in ein neues Leben geschafft. Kurz nach der Wende kamen sie und ihre Familie als jüdische Emigranten nach Hamburg. "Das nannte sich 'Kontingentflüchtling'", sagt sie, während sie etwas verstört über dieses Wort schmunzelt. "Entweder konnte man als Spätaussiedler oder als Jude nach Deutschland kommen." Auch wenn sie sich mit dem Jüdischsein nicht wirklich identifiziere. Anders ihr Freund Vladislav (39), der Video-Installationen für die Partys entwirft: "Jüdischsein ist in Russland teilweise verpönt, ein Schimpfwort. Ich glaube, gerade deshalb war mir dort immer sehr bewusst, dass ich Jude bin."

Gleiches gilt für das Russischsein, das die Freunde auf den Datscha-Partys verkörpern und feiern wollen. Tatjana ist studierte Soziologin. "Russen sind ekstatisch und gleichzeitig tief melancholisch. Die Melancholie nährt sich aus der Ekstase und umgekehrt. Oft in allen Lebensbereichen, besonders beim Feiern." Aber melancholische Russen - klingt ebenfalls sehr nach Klischee. Und gerade das will das Datscha-Projekt doch aus der Welt räumen. "In Hamburg kommt mir alles so entspannt vor, so leicht und machbar. In Russland ist das Leben hart, jeder trägt eine schwere Last mit sich herum. Das spürt man auch auf Partys."

Vielleicht auch im Glauben. Orthodoxe Russen glauben in Hamburg am Holstenplatz. Am Rande St. Paulis befindet sich seit 1907 die Gnadenkirche. Seit vier Jahren ist die frühere protestantische Kirche eine russisch-orthodoxe - die erste Umwidmung in Hamburg überhaupt. Seitdem hat sich das Gotteshaus verändert. An den Wänden befinden sich neue Fresken, manche sehen noch frisch aus. Erzpriester Sergej Baburin durchmisst zügig den hallenartigen Innenraum seiner Kirche und geht über die Treppe zur Empore, wo Bücherregale, ein langer Tisch und Stühle stehen. "Manchmal sind 350 Menschen im Gottesdienst." Er redet mit sanfter Stimme, sein Deutsch ist gut nach den fünfeinhalb Jahren, die er in Hamburg ist. Es war der Patriarch, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der den Familienvater 2004 nach Hamburg schickte. Baburin fragte nicht viel, er hätte auch keine Wahl gehabt. Aber er wusste, dass er in eine Stadt zog, in der schon viele Landsleute lebten. Landsleute, die im kommunistischen und atheistischen Russland nicht viel für Religion übrighatten. Landsleute, die aber in den vergangenen Jahren immer zahlreicher kamen. 2000 Mitglieder hat die Gemeinde mittlerweile. Der Erzpriester erzählt von den Bibelstunden und den Gesprächsgruppen der Jugendlichen. Er ist zufrieden mit dem Gemeindeleben, aber nicht alles läuft so, wie er sich das vorstellt. Die Gemeinde braucht mehr Platz, zum Beispiel für Chorproben und Bibliothek. Deshalb wurde das benachbarte Gebäude gekauft. Die Investition lohnte sich nicht.

Das mehr als 100 Jahre alte Gebäude ist von Termiten zerfressen. Einen Neubau will die Gemeinde auch, aber einen modernen, billigeren. Einigung mit dem Denkmalamt ist noch nicht in Sicht, aber Baburin hofft. Und verrichtet einstweilen weiter seine Arbeit. Es ist die eines Seelsorgers. Auf der Homepage der Kirchengemeinde steht seine Handynummer, er wird oft angerufen, gerade von den Älteren. Er muss sie trösten, ihnen zuhören, Psychologe sein. Viele der russischen Immigranten finden keine Arbeit. Viele sprechen kein Deutsch. "Es ist nicht leicht, in der Diaspora zu leben, das gilt für alle Völker der Erde", sagt der Geistliche. Er begreift die Gemeindearbeit auch als Integrationsprogramm. Integrieren, nicht assimilieren, daran glaubt er, und deshalb ist er wachsam. "Es gibt ein Bildungsproblem unter unseren Leuten", sagt er. Die Jungen verlernen das Russische. "Deshalb muss das Kulturprogramm wachsen." Er selbst hat vier Kinder, zwei von ihnen sind in Hamburg geboren. Zu Hause sprechen sie Russisch, in Schule und Kindergarten Deutsch.

Die Alten haben Deutsch nie gelernt, die Jungen lernen kein Russisch mehr.

Katja Hille, die Studentin, ist jung, und sie kann trotzdem Russisch. "Die Sprache meiner Träume ist Russisch", sagt die 28-Jährige. Sie ist nie ganz hier in Hamburg, ihrer neuen Heimat.