1976 starb Chinas “Großer Vorsitzender“. Was ist aus seinem Land geworden - genau 30 Jahre danach? Unsere Autoren haben zweimal, damals und heute, das Land bereist. Ein verblüffender Vergleich auf drei Seiten.

1976 war der Hamburger Journalist Martin Kummer fotografierend durch das rote "Reich der Mitte" gereist und in den April-Aufruhr geraten, Beginn von Chinas revolutionärer Wende. Jetzt erlebte er mit seiner Frau und Journalistin auf derselben Route das neue China. Auf 13 000 Fotos dokumentierten sie: Maos Land ist tot - China erblüht zur Weltmacht!

Nin ho (Guten Tag), Peking!" Hauptstadt der Volksrepublik China, mit 1,3 Milliarden Menschen größtes Volk der Erde. Heute ist unser ganz besonderer Peking-Tag im frühlingshaften April dieses denkwürdigen Jahres 2006.

Wir spazieren über den 400 000 Quadratmeter riesigen "Platz des Himmlischen Friedens" für eine Million Menschen im Stadtzentrum, Chinas Herz, direkt auf unser Morgenziel zu: Mao Tse-tungs wuchtiges Mausoleum an der Südseite! Im Innern ein beleuchteter Glassarg. Hier also liegt er: Chinas "Großer Vorsitzender", einstiger Machtmensch, tot seit dem 9. September 1976, genau 30 Jahren. Einbalsamiert, in seinem chinesischen Einheitsanzug samt Lieblingsschuhen Größe 43/44, bis zur Brust bedeckt mit der roten Fahne der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Der einst gefeierte Befreier von Feudalismus und Fremdherrschaft, der Gründer der Volksrepublik (VR) China, die KPCh-Ikone.

Das Erbe des 82-Jährigen, das Leben, sah anders aus. China 1976, mit eigenen Augen erlebt: Ein "Entwicklungsland" am Rande des Abgrunds, abgeschottet von der Außenwelt. Die "Große Proletarische Kulturrevolution", von Mao 1966 gegen seine Gegner entfesselt, ebbte nach zehn Chaos-Jahren endlich ab und hatte eine Bilanz des Schreckens: geschätzte 30 Millionen Getötete und Verhungerte, Millionen Geknechtete, Wirtschaft ruiniert, ein 910-Millionen-Volk ohne Meinungsfreiheit - nur die KPCh hat immer recht. Die rote "Mao-Bibel" mit Maos Weisheiten kommandiert das Denken. Der "Mao-Anzug" als Einheitskleidung für Mann und Frau. Totale Gleichmacherei, Regulierung bis zum Sex.

Und heute, da wir uns am Mausoleums-Eingang für drei Yuan (0,30 Euro) eine rote Rose kaufen, sie zu den vielen tausend anderen im Vorraum niederlegen und uns dann vor Mao verneigen? China ist auferstanden, mit immer mehr Kapitalismus zur Weltmacht erblüht. In Peking kurz vor unserer Ankunft auf die Formel gebracht: "Der chinesische Traum"!

"Der chinesische Traum" - 2006, nun mit eigenen Augen gesehen: Jeder strebt nach persönlichem Wohlstand und Gewinn (oft verbunden mit Korruption). Ihr Land - offen für Dollars und Euros, für kapitalistische Unternehmen und Manager, für Touristen aus aller Welt. Aber noch weitgehend verschlossen gegenüber Meinungsfreiheit, KPCh-Opposition, Menschenrechten. Beladen mit gewaltigen Umwelt-Schäden. China - Land der Gegensätze statt Gleichmacherei, der neuen Millionäre, aber auch millionenfacher Armut. Und Land der erwachten Lebens- und Liebeslust mit der Revolution in den Herzen und in den Betten.

Gegenüber dem Mao-Mausoleum, an der Nordseite von Chinas Herz, halten wir inne und staunen: Ausgerechnet unter dem geschichtsträchtigen, 6 \* 4,5 Meter riesigen Mao-Porträt am "Tor des Himmlischen Friedens" nimmt sich ein junges Liebespaar zärtlich an die Hand, küsst sich öffentlich. Zu Maos Zeiten bis 1976 - streng verboten! Ausgerechnet von Mao, der 1,65 Meter kleine "Große Vorsitzende", der vier Frauen geheiratet hatte und sich bis ins Greisenalter noch willige, junge Bettgenossinnen bringen ließ. "Ein Glück, dass ich damals nicht gelebt habe", sagt die ledige 26-jährige Xurong Rong, eine gelernte Hotelfachfrau aus Schanghai, mit der wir uns anfreunden.

Noch beim ersten Besuch 1976 hieß die Liebe auf Chinesisch "Erst Mao, dann ins Bett!" Männer dürfen erst mit 27 Jahren heiraten, Frauen nicht vor 25. Die Parole damals: "Mao hat gesagt, dass sie erst dem Volke dienen müssen." Zum Beispiel in den bäuerlichen Volkskommunen. Geschlechtsverkehr vor der Ehe war tabu, selbst Petting.

"Heute nicht mehr, Anstoß nimmt auch fast keiner", klärt uns Freundin Xurong Rong auf, die noch zu Hause wohnt. "Früher überall tote Hose. Heute ist China ein einziges Bordell", lästert Geschäftsmann Li Shengming (50) offen vor uns. "Massage" ist das Zauberwort. Männer flüstern uns abends auf belebten Straßen zu: "Massage, Massage - Sex!" Willige Chinesinnen schmuggeln sich ins Hotel. Verhütungsmittel überall, unter Mao nur für Verheiratete (gratis).

"Wie muss dein Traummann aussehen?", fragen wir Rong. Sie lächelt: "Er muss ein gutes Herz und einen guten Job haben." "Das Heiratsalter darf bei Männern nicht unter dem vollendeten 22. und bei Frauen nicht unter dem vollendeten 20. Lebensjahr liegen. Es wird gefördert, dass man spät heiratet und spät Kinder bekommt", steht im Ehegesetz von 1980. Damit das 1,3-Milliarden-Volk nicht noch weiter explodiert, ist Ehepaaren zurzeit nur ein Kind erlaubt. Wer sich daran hält, wird vom Staat gefördert, wer mehr hat, muss Strafe zahlen. Und wenn die Liebe eines Tages erlischt? Scheidung erlaubt, bei Mao noch untersagt.

Herr Zhu (VW): Der Autobauer, der sich kein Auto leisten kann. Das "Reich der Mitte" bei unserer ersten Reise: ein Fahrradland. Nur die Partei, Staatsbetriebe und Kommunen dürfen Autos kaufen. Heute staunen wir: Mehr als 13 Millionen Chinesen besitzen inzwischen eines (1 Prozent der Bevölkerung). In Peking, durchzogen von Autobahnen und Schnellstraßen, sind es mehr als 2,5 Millionen Pkw. Und Chinas Auto-Boom beginnt erst.

Stolz erklärt uns VW-Repräsentant Su Jin xiong (33) bei "Shanghai Volkswagen" in der Autostadt Anting, 70 km von Schanghais Zentrum entfernt: "Den größten Marktanteil halten immer noch wir!" Seit 1985 laufen hier VW vom Band. "Was ist für chinesische Autokäufer wichtig?" Su Jin xiong: "Geringer Benzinverbrauch, niedriger Preis."

Am "Passat"-Fließband fragen wir Monteur Zhu Li Feng (28) im blauen Overall, mit Hals-Goldkettchen: "Haben Sie selbst schon ein Auto?" "Nein", antwortet der verheiratete VW-Monteur. Seine Kollegen auch nicht. Die einfache Rechnung: Herr Zhu verdient im Monat rund 2000 Yuan. Sein Traumauto, ein VW-Touran, kostet aber 229 800 Yuan - fast 115 Monatsgehälter! Da müsste der VW-Monteur neun Jahre lang jedes Monatsgehalt sparen, der glatte Wahnsinn! Der "Golf" für 173 800 Yuan ist auch unerreichbar. Da helfen auch keine 10 Prozent Mitarbeiterrabatt und Ratenzahlung.

Der bauernschlaue Herr Tscheng: Endlich reich! Maos Muster-Bauer Tseng Chen-Yuan (62) in der Volkskommune "Neues China" ("Xinhua") bei Guangzhou/Kanton im Süden Chinas sagte am 14. April 1976 leise: "Ich wurde von meinen Eltern zu einem Gutsbesitzer gegeben und musste als Hirte arbeiten. Dank Mao bin ich heute Bauer und reich wie alle."

Nun sind wir wieder hier: Seine 120 Quadratkilometer große Volkskommune, eine bäuerliche Gemeinschaft von 17 200 Familien - weg, aufgelöst. An vielen Stellen spurlos begraben unter Eigenheimen und Mietshäusern wohlhabender Bauern, unter dicht befahrenen Autobahnen und Straßen! Wie viele der 75 000 Volkskommunen Chinas.

Dank Mao "reich wie alle"? Tatsächlich waren (fast) alle 700 Millionen Landbewohner gleich arm: Die meiste Ernte musste die Volkskommune zu festen Niedrig-Preisen an den Staat verkaufen. Bis Wirtschaftswunder-Vater Deng Xiaoping (75) nach Maos Tod das Signal gab: "Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse."

Eine Katze auf Mäusejagd, die fanden wir jetzt bei Sonne pur und 30 Grad im Schatten auf den fruchtbaren Hügeln der Ex-Volkskommunen in Longgang, das zu Dengs erster, 1980 ausgerufener Sonderwirtschaftszone Schenzen im subtropischen Südchina gehört: Bauer Tscheng Tsching, verheiratet, Vater eines Sohnes (13), 20 Helfer. Fast namensgleich mit dem armen, 62-jährigen Bauern Tseng von 1976. Er aber ist mit 48 Jahren längst wohlhabend: Zwei Zwei-Etagen-Häuser mit allem Komfort, auf dem 400 000 Quadratmeter (40 Hektar) großen Reich 10 000 Obstbäume und Gemüsefelder.

"Wie haben Sies geschafft?", fragen wir ihn. "Meine Eltern waren Volkskommune-Angestellte, hatten Erfahrung mit Obstanbau. Ich habs ihnen abgeguckt. 1991, als hier noch alles wild durcheinander wuchs, habe ich den Boden für 30 Jahre vom Staat gepachtet. Dann gings los." Die Preise diktiert nicht mehr der Staat, sondern bestimmen Angebot und Nachfrage. Die Früchte seiner Arbeit: Um die 100 000 Yuan verdient Tscheng Tsching im Jahr. Schon 60 000 reichen, um gut leben zu können.

Und die Schattenseiten? So manche gibt es in der Volksrepublik, in der rund 800 Millionen der jetzt 1,3 Milliarden Chinesen auf dem Land wohnen. Hier drücken die größten Probleme: Arbeitslosigkeit, Zwang zur Arbeitssuche in Städten ("Wanderarbeiter"). Jetzt spricht Ministerpräsident Wen Jiabao (63) von einer "historischen Wende": "In China soll von nun an nicht mehr die Landwirtschaft die Industrie unterstützen, sondern die Industrie die Landwirtschaft." Im Kampf gegen Spekulanten heißt es: "Bauernland bleibt kollektiv!" Mit verschärftem Schutz.

Vorhang auf für Chinas schönstes Gesicht. Oder: Manche mögens heiß: die Frauen! Schwarze Mandelaugen, glattes, naturschwarzes Haar, oft zum Pferdeschwanz gebunden, naturweiße Haut, grazile Top-Figur. Ihre Befreiungs-Parole nach Maos Tod: Raus aus dem Mao-Anzug! Runder Busen, schmale Taille, schlanke Beine - plötzlich kommen Männerträume zum Vorschein. Jetzt umhüllt von Kleidern, Blusen, Röcken, Jeans. Triumphierend zeigt Rong, erst vier Jahre nach dem Mao-Spuk geboren, auf ihr Jacken-Label: "Echt Adidas, meine Jacke!"

Mode-Paradies China: Von Hugo Boss bis Chanel, Esprit, Escada, Gucci, Mango, Prada, Triumph, Zara - wer genug Geld hat, kann sich hier die Kleider-Welt kaufen. Auch die Männer haben den Mao-Anzug längst an den Nagel gehängt, lieben es "westlich".

"Welches Schönheitsideal beeinflusst die Chinesin?", wollen wir von "Nivea China" am Stadtrand von Schanghai wissen, wo uns Geschäftsführer Andrew Chang und Marketing-Manager Jan Hodok empfangen. "Sie legt großen Wert auf ihr Gesicht, sie weiß: Schöne, gepflegte Frauen sind sehr erfolgreich." Gibt es den China-Trend"? Antwort: "Die Chinesin will helle Haut haben." Das Bleichmittel "Nivea-Visage Whitening" erfüllt die Wünsche.

Wenn Mao heute durch die Geschäftsstraßen seines Reiches führe! So viel nackte Haut hat er in seinem ganzen 82-jährigen Leben wohl nie gesehen. Wir auch nicht. Werbung in jeder Form für den perfekten Busen, umhüllt von zarter Spitze, Slips in allen Schnitten, Hemdchen mit Spagetti-Trägern, Farben von Nachtschwarz bis Blutrot: die perfekte Kaufanmache. In Maos Machtperiode undenkbar und verboten. Inzwischen hat die moderne Frau den "Reiz" entdeckt, kokettiert sogar frivol: "Manch schöner BH ist geeignet, gezeigt zu werden." "Nur die traditionelle Chinesin will ihre Unterwäsche nicht sichtbar machen", verrät uns Rong.

ALLES hört auf EIN Kommando - auf MEINS! Alle - das waren auf unserer ersten Reise 1976 immerhin 910 Millionen Chinesen. Kommandeur: Mao, 82 Jahre alt. Sein Sprachrohr: die "Volkszeitung" in Peking , seit 1949 Blatt der Kommunistischen Partei China (KPCh), mit 5,2 Millionen Exemplaren täglich Chinas größte Zeitung. Von Mao gegründet, zunächst auch geführt.

5. April 1976: Wir sitzen im Konferenzraum der "Volkszeitung", fast in Sichtweite von Chinas Herz. An Gang (57), stellvertretender Chefredakteur, im Mao-Anzug. Hinter ihm: ein Mao-Porträt. Frage: "Welche Aufgabe hat Ihr Blatt?" "Es propagiert den Marxismus-Leninismus und die Ideen Maos." Die wenigen Blätter, TV- und Hörfunk-Kanäle Chinas müssen ebenfalls nach der KP-Pfeife tanzen. Ganze 400 000 TV-Gemeinschaftsgeräte gibt es.

13. April 2006: Wir sitzen wieder im Konferenzraum der "Volkszeitung". Jetzt im Neubau, 20 Kilometer vom alten entfernt. Der Altbau - verkauft, nun ein Konsumtempel! Yin Shuguang, Mitglied der Chefredaktion, im dunklen "westlichen" Anzug mit Krawatte! Hinter ihm statt Mao ein Landschaftsbild. Frage: "Welche Aufgabe hat Ihr Blatt heute?" Unser freundlicher Gastgeber: "Die Bekanntgabe der neuen Regierungs-Politik." Auflage, Chinas höchste: mehr als zwei Millionen, im Internet siebensprachig. Und immer auf KPCh-Kurs.

China - heute ein Medienparadies: bald jeder hat TV, Radio, 15 Prozent Internetnutzer, 400 Millionen Handys, Tausende von Zeitungen, Zeitschriften. Geblieben ist die Zensur: Was nicht ins KPCh-Schema passt, wird geblockt. "Herr Yin, noch eine Frage: Wer entscheidet, welcher Chefredakteur die ,Volkszeitung' leitet?" Antwort: "Er wird vom Volkskomitee der KPCh berufen." Sehr demokratisch. Früher galt nur eine Stimme: Maos.

Aber Mao ist tot - für die meisten Chinesen heute auch im Herzen. In ihrer Hand haben ihn jedoch alle täglich: Mit ihren Yuan-Scheinen, den chinesischen Moneten, auf denen der Gründer ihrer Volksrepublik mit seinem typischen Porträt noch immer abgebildet ist.


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7 Wünsche hat der Chinese

1 Frau

2 Kinder

3 Zimmer in seiner Wohnung

4 Räder - also ein Auto

5 Arbeitstage in der Woche

6-Stellen-Guthaben bei der Bank

70 Jahre alt werden