Seine Happenings brachen Tabus in jeder Hinsicht: Otto Mühl, österreichischer Aktionskünstler, wollte nie “bürgerlich“ leben, nie zwischen Kunst und Leben unterscheiden. Von 1970 an war er Herrscher einer radikalkommunistischen Kommune mit “freier Sexualität“. Frei? Mühl wurde 1991 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Jugendliche in der Kommune mißbraucht hatte. Kann man das aussparen, wenn man jetzt, zu seinem 80. Geburtstag, in Hamburg eine große Mühl-Retrospektive zeigt? Warum wird den Opfern kein Raum dabei gegeben?

Als ehemalige Kommune-Opfer im vergangenen Jahr erfuhren, daß der Hamburger Sammler Dr. Harald Falckenberg eine große Mühl-Retrospektive plante, wehrten sie sich mit Protestbriefen (siehe Kasten unten). Das Ergebnis: Falckenberg beschloß, Mühls Kommunezeit von ca. 1970 bis 1991 aus der Schau ganz auszuklammern. Damit erklärten sich die Opfer einverstanden.

Aber wäre es nicht - im Gegenteil - zwingend notwendig, in einer solchen Ausstellung auch die Rolle Mühls als Machtmensch und Sextäter zu beleuchten, für den seine Kunst und seine Lebensform zusammengehörten? Hätte man nicht Zeugenaussagen der Opfer Raum geben müssen, anstatt dies "Psychologen, Soziologen und Juristen" zu überlassen? Es ist überraschend, wie gern Vertreter der Kunstszene, für die Mühl als Künstler wegweisend ist, die Schattenseiten dieses Mannes nicht angucken wollen.

Ab 1970 postulierte Mühl als einzig glücklichmachende Lebensform die der Kommune. Mit "freier Sexualität", kollektiver Kindererziehung, Kollektiv-Eigentum und gruppendynamischen Psycho-Prozessen - angelehnt an Theorien des Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Die Kommune lebte zunächst in der Wiener Praterstraße, ab 1972 im Burgenland mit bis zu 600 Personen. Es gab europäische "Ableger" und eine eigene Schule für die Kinder. Das Landesgericht Eisenstadt verurteilte ihn am 14. 11. 1991 wegen Unzucht mit Minderjährigen, Vergewaltigung und Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz zu sieben Jahren Haft. Ehemalige Mitglieder der Kommune hatten ihn angezeigt.

Einer, der Mühl schon lange kennt, ist Dr. Robert Fleck, Hamburgs Deichtorhallen-Leiter.

JOURNAL: Herr Fleck, wie gut kennen Sie Otto Mühl?

ROBERT FLECK: Ich bin in der Straße aufgewachsen, wo Mühl seine Kommune hatte. Meine Eltern kannten seinen Vater: Sie kamen aus dem Burgenland. Otto Mühls Vater und mein Großvater waren dort Volksschuldirektoren.

JOURNAL: Wann kamen Sie erstmals mit Mühls Kunst in Berührung?

FLECK: Als die Gruppe um Otto Mühl in den 60er Jahren begann, extrem provokante Aktionen mit Tierkadavern durchzuführen, "Happenings" veranstaltete mit Blut, hörte ich im Elternhaus, daß das eben der Otto Mühl ist. Ich bin später in der Wiener Kunstszene großgeworden, dort war Mühl eine zentrale Figur.

JOURNAL: Haben Sie ihn in einer seiner Kommunen besucht?

FLECK: Nein. Mir schien, daß man da keinen individuellen Freiraum hat. In dieser Post-Hippie-Lebensform ging es so kollektiv zu, daß man noch nicht mal in Ruhe ein Buch lesen konnte.

JOURNAL: Viele sagen, Mühl habe eine große Sogkraft auf sie ausgeübt.

FLECK: Ich sah ihn oft beim Zeitungkaufen. Bei uns war er eine Figur wie Joseph Beuys in Deutschland. Ein Monument.

JOURNAL: Aber richtig kennengelernt haben Sie ihn eigentlich erst 1992, als er inhaftiert war.

FLECK: Ich hatte eine offizielle Funktion in Österreich - im Bereich der Vermittlung bildender Kunst ins Ausland. Wir planten damals mit Kasper König eine Ausstellung im Portikus in Frankfurt parallel zur Eröffnung der Documenta. Deshalb haben wir Otto Mühl im Gefängnis besucht.

JOURNAL: Der erste Kontakt?

FLECK: Solange er in der Kommune war, konnte man keinen intensiven persönlichen Kontakt mit ihm haben. Er war abgeschottet wie ein Staatschef.

JOURNAL: Wie wirkte er im Gefängnis auf Sie?

FLECK: Er hatte eine starke persönliche Kraft. Er hatte den Hofstaat der Kommune nicht mehr, war völlig vereinzelt und wußte, daß jetzt nur noch die Kunst ihn retten konnte. Im öffentlichen Bild wird oft vergessen: Er hat einen unglaublichen Humor. Eine Art Galgenhumor, der zieht sich durch seine ganze Arbeit. Wir haben viel über die Kunst der 60er und 70er Jahre gesprochen. Das Verhältnis wurde nah, wir schrieben uns alle 14 Tage einen Brief.

JOURNAL: Worum ging es?

FLECK: Es ging darum, wie er in ein normales künstlerisches Arbeiten wieder hineinkommt, ohne einen Hofstaat zu haben. Jetzt saß er in einer Zelle und war als verurteilter Kinderschänder nicht besonders hoch angesehen.

JOURNAL: Welches Ziel hatten Ihre Besuche?

FLECK: Die Kommune hatte seit den 60ern die wichtigste Sammlung österreichischer Avantgarde-Kunst aufgebaut. Mit Museumsleuten wie Kasper König und Harald Szeemann haben wir versucht, die Sammlung in eine öffentliche Institution zu bringen. In einem Prozeß von über zehn Jahren hat zum Schluß der österreichische Staat dann doch diese Sammlung für das Museum Moderner Kunst in Wien akzeptiert.

JOURNAL: Sie wollten ein Buch über die Kommune schreiben.

FLECK: 1999 konnte ich für eine Woche im Kommune-Archiv Papiere sichten. Das Archiv war vorher gerichtlich gesperrt und zwei Wochen später wieder gesperrt. Eine seltene Gelegenheit.

JOURNAL: Was haben Sie dabei herausgefunden?

FLECK: Mich hat überrascht, daß das Gericht sich auf zwei, drei Fälle konzentriert hat. Aber: Es geht hier um viel mehr.

JOURNAL: Hatte der Mißbrauch ein noch viel größeres Ausmaß?

FLECK: Otto Mühl hatte das jus primae noctis. Das Recht auf die erste Nacht. Das galt seit 1983/ 84 und betraf eine oder sogar zwei Generationen von Mädchen in der Kommune - und nicht nur zwei, drei Personen. Dieses Recht auf die erste Nacht wurde vom Führungskreis der Kommune organisiert und relativ breit in der Kommune getragen. Wie in einer Stammesgesellschaft.

JOURNAL: Sie meinen, man hätte sehr viel mehr Leute für sieben Jahre einsperren müssen?

FLECK: Aus seiner persönlichen Verantwortung kann Otto Mühl sich nicht herausstehlen. Aber die Entscheidung wurde von einem breiten Führungskreis mitgetragen. Breiter, als das Gericht gedacht hat. Andererseits hat das Gericht das Urteil auf einen persönlich obsessiven Kinderschänder ausgerichtet. Ich denke nicht, daß Mühl hinter der Mauerecke Kindern aufgelauert hat. Sondern: Wenn ein Mädchen in der Kommune die erste Menstruation hatte, wurde es alsbald von einer der Frauen aus dem führenden Kreis zu Mühl geführt. Eigentlich ist das noch fürchterlicher. Aber davon handelte der Prozeß nicht.

JOURNAL: Das ist für die Opfer noch viel schlimmer. Weil sie von niemand Hilfe erwarten konnten.

FLECK: Die Kinder konnten nicht raus. Sie hatten keine Chance.

JOURNAL: Was ist da passiert in den Köpfen dieser Menschen?

FLECK: Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre hatte die Kommune das Gefühl, von der ganzen Welt angegriffen zu sein und die Lösung zu haben für die Zukunft des Zusammenlebens. Es gab so eine Paranoia, die eigenen Prinzipien unbedingt rein erhalten zu müssen. Sie glaubten, diese Prinzipien seien objektiv die Prinzipien für die Zukunft der Menschheit.

JOURNAL: Deshalb muß man nicht Zwölfjährige mißbrauchen.

FLECK: Die Kommunemitglieder wurden nicht mit der Pubertät ihrer Kinder fertig. Die Kinder begannen sich zu verlieben. Aber die Kommune hatte beschlossen, daß Liebe eine blöde bürgerliche Angelegenheit ist, die in einer radikalkommunistischen Gesellschaft keinen Platz hat.

JOURNAL: Zweierbeziehungen waren streng verboten?

FLECK: Wenn zwei Mitglieder dieses Gesetz nicht einhielten, wurde einer von ihnen in eine andere Ecke Europas geschickt. Jetzt nahmen die Jugendlichen aber Zweierbeziehungen auf. Wie kann man das brechen? Der Direktionskreis beschloß, das mit eben diesem Mittel zu tun: jus primae noctis. Sie sahen Mühl als Vater von allen, obwohl das biologisch gar nicht stimmte. Sie sahen ihn als einen der intelligentesten Menschen, der je gelebt hat.

JOURNAL: Und die Kinder?

FLECK: Für die war Mühl die Bezugsperson schlechthin. Wie ein Halbgott. Die Erziehungsmethoden waren stark von ihm geprägt. Er ist Gymnasiallehrer und hatte eine goetheanische Erziehung. Die hatten in ihrer internen Schule sehr gute Ergebnisse, machten zwar öffentliches Abitur, galten aber als beste Schule im ganzen Bundesland.

JOURNAL: Haben Sie mit Mühl im Gefängnis darüber gesprochen?

FLECK: Er hat oft über solche Dinge gesprochen. Ich habe mit ihm nicht über die organisierte Form des Mißbrauchs geredet, aber er hat gesagt, er dachte, alle zögen an einem Strang. Daß das jetzt sein Job ist.

JOURNAL: Wie?

FLECK: Das gehörte zu seinen Herrscheraufgaben. Aber sicher hatte er zu mehreren Mädchen eine emotionale Beziehung aufgebaut. Zum Schluß ist das Ganze geplatzt. Es gab einen internen Putsch, wo er entmachtet wurde.

JOURNAL: Wurde Mühl irgendwann bewußt, welchen Schaden er den Kindern zugefügt hat?

FLECK: Er und die Kommunemitglieder haben erst, als das Ganze aus war, gemerkt, in welcher Maschinerie sie gesteckt haben, die sie für fortschrittlich hielten, die aber eine Art Diktatur war.

JOURNAL: Hat Otto Mühl mit Ihnen sein Verhältnis zur Macht kritisch beleuchtet?

FLECK: Ja, aber mit einer Rechtfertigung. In dem Sinne: Mit der Abschaffung der Zweierbeziehung, der Einführung von Gemeinschaftseigentum und mit der Intelligenz der Studenten, die zu ihm kamen, dachten sie, sie hätten eine gute Form gefunden. Auch für jene, die große Probleme hatten oder drogenabhängig waren. Sie dachten, diese Gesellschaftsform sei so perfekt, daß sie jeden integrieren können.

JOURNAL: Das dachte Mühl dann später nicht mehr.

FLECK: Er hat im Gefängnis immer wieder gesagt, er hätte die Leute besser auswählen müssen.

JOURNAL: War die Art, wie er Macht ausgeübt hat, ein Thema?

FLECK: Nein. Er sagt zwar, er hat Fehler gemacht, aber die Grundprinzipien solchen Zusammenlebens sind für ihn nach wie vor Prinzipien einer perfekten Gesellschaft.

JOURNAL: Ist Mühl zur Selbstkritik fähig? Hat er sich nie gefragt, daß er seine Machtposition benutzt hat, um Menschen zu mißbrauchen?

FLECK: Daß in so einem radikalkommunistischen Zusammenleben grundsätzlich eine Art Diktatur angelegt ist, würde er sicher nicht zugeben. Wenn man keine eigene Unterhose, keine eigene Zahnbürste hat, das ist radikal.

JOURNAL: Und dürfte Probleme aufwerfen.

FLECK: Die Frage, die sie alle nicht bedacht haben, war zunächst zwar nicht Aids, aber generell das Problem der Geschlechtskrankheiten. Damit hatten sie Riesenprobleme von Anfang an. Und wenn man dann mit 30, 40 Leuten zum Arzt geht, sieht man, was da für Prozesse stattfanden. Später, zu Zeiten von Aids, wurden strenge Kontrollen durchgeführt. Vorher wurde man als Individualist angeprangert, wenn man allein ins Kino wollte. Wenn der Film gut ist, müssen wir doch alle hingehen, hieß es. Danach, also seit es Aids gab, durfte eigentlich keiner mehr allein rausgehen. Aus Angst, er könnte sich draußen mit HIV infizieren.

JOURNAL: Finden Sie es gut, daß in Hamburg die Mühl-Ausstellung zu sehen ist?

FLECK: Ja, unbedingt. Er hat in den 60er Jahren die Form des Happenings sehr weit getrieben. Das ist eine große Position. Von der Größe vergleichbar mit einem Wolf Vostell. Er hat Tabubrüche gewagt, die die anderen allein nicht gemacht hätten. Er hat großen Einfluß auf die US-Kunst der 80er und 90er Jahre gehabt. Was Künstler manchmal haben: Es gibt für sie selbst keine Grenze, sie wissen nicht genau, wo sich ihr Werk hinentwickelt, und über alle Fehler hin gehen sie den Weg bis zum Schluß. Bei Beuys war das der Fall, bei Mühl auch.

JOURNAL: Können Sie nachvollziehen, daß Mühl in der öffentlichen Meinung durch den Mißbrauch auch seine Glaubwürdigkeit als Künstler verloren hat?

FLECK: Ja, absolut. Aber er hat immer aus dem Konflikt mit der Öffentlichkeit heraus gearbeitet. Das hat seine Wurzeln in der österreichischen Geschichte der 50er, 60er Jahre, in der paternalistischen Nachkriegszeit.

JOURNAL: Es gibt aber auch Künstler, die ihn früher bewundert haben. Heute nicht mehr.

FLECK: Das sehe ich bei jüngeren Künstlern in Österreich ganz massiv. Diejenigen, die den spektakulären Prozeß als ersten Eindruck von Otto Mühl erlebten, finden es oft skandalös, wenn man sich damit abgibt. Verständlich.

JOURNAL: Wie verhält es sich mit den Mißbrauchs-Opfern?

FLECK: Ich habe von vielen Jugendlichen, die in der Kommune gelebt haben, ein Echo bekommen. Die sagen, das war unmöglich, wir haben für immer einen Schaden erlitten. Aber viele sagen auch, daß es eine gute Stimmung gab, daß sie in der Kommune Freunde hatten - mehr, als sie jetzt "heraußen" haben. Viele sagen, die Kommune hat ihnen eine breite musische Ausbildung ermöglicht. Viele arbeiten jetzt in kunstnahen Berufen oder als Künstler. Das Ganze war organisisert wie eine Kunsthochschule. Quer durch alle Disziplinen.

JOURNAL: Mühl wurde am 16. Juni 80. Er leidet an der ParkinsonKrankheit. Was erwarten Sie von der Hamburger Ausstellung, die ja einen breiten Teil, nämlich die Kommune-Zeit, ausklammert?

FLECK: Mühl ist alt, sehr krank, dies ist die letzte Phase seines Lebens. Es ist wichtig, daß es diese Ausstellung gibt. Gerade seine Arbeit der 60er Jahre darf nicht in Vergessenheit geraten. Vieles daraus wird bleiben. Jüngere Kunsthistoriker und Kritiker müssen das im Hinterkopf haben.