Aus verrätselten Dialogen zweier Männer im Tessin entwickelt der neue Roman von Markus Werner mysteriöse Spannung

Da fährt man über Pfingsten ins Tessin, um sich in Ruhe zu vertiefen in die Geschichte des Scheidungsrechts, und dann kommt einem dieser Unbekannte in die Quere, dieser Loos", entfährt es dem promovierten Juristen Clarin, der in der Abgeschiedenheit der Berge an einem Aufsatz für eine juristische Fachzeitschrift arbeiten will. Jener Loos, ein kauzig-introvertierter Gymnasiallehrer, der den Tod seiner über alles geliebten Frau betrauert, teilt für zwei Abende den Restauranttisch mit Clarin, und die beiden gebildeten Zeitgenossen führen eine philosophisch angehauchte Tischkonversation auf höchstem Niveau. Nach anfänglicher Zurückhaltung parlieren sie über ihr Leben, über Liebe und Treue, über latente Schuldgefühle, aber auch über Literatur, Musik und das marode Schulsystem.

Der siebte Roman des in Schaffhausen lebenden Schriftstellers Markus Werner liest sich wie ein Kammerspiel in indirekter Rede. Das wirkt zunächst wenig aufregend, zumal nur noch eine weitere Person - die Therapeutin Eva - direkt in die Handlung eingreift. Die große Kunst des 60 Jahre alten Autors besteht jedoch darin, dass er es glänzend versteht, mittels der beiden Figuren Clarin und Loos zwei völlig verschiedene Weltbilder in gepflegter Diskussion aufeinander prallen zu lassen.

Der Jurist Clarin ist ein weltoffener, kontaktfreudiger Typ, ein überzeugter Junggeselle, der von einer Affäre in die nächste schlittert und das Leben in vollen Zügen genießt. Loos kommt dagegen als wertkonservativer Zeitgenosse daher, der nach dem Tod seiner Frau anscheinend alle außerschulischen Brücken zur Umwelt abgebrochen hat und die Rolle des trauernden, leicht misanthropischen Witwers mit dem Gestus des "Überzeugungstäters" verkörpert.

In der zweiten Handlungshälfte wächst bei Clarin (vielleicht berufsbedingt) das Misstrauen gegenüber Loos' Schilderungen über das Krebsleiden seiner Frau, ihre spätere Heilung und den dann plötzlichen Unfalltod im Pool eines Tessiner Kurhotels. Diese mysteriöse Spannung, die Markus Werner nur durch vage Andeutungen ("Lügner seien angewiesen auf ein gutes Gedächtnis") in die weinseligen Abenddialoge eingeflochten hat, greift wie ein ansteckender Infekt auf den Leser über. Von der spröden Dramatik infiziert hastet man Seite um Seite weiter durch diesen sprachlich ausgefeilten Text und steht am Ende wie der Jurist Clarin vor einem zusammengepuzzelten Mosaik - das der finale Handlungssturm wieder in alle Einzelteile zerlegt.

Einen Gast namens Loos hat es in Clarins Hotel, in dem sich beide trafen, nie gegeben, auch vom tödlichen Badeunfall in der Kurklinik gibt es keine Spuren. So deuten am Ende einige Indizien darauf hin, dass Loos in Wirklichkeit Bendel heißen könnte und der verlassene Ehemann von Clarins letzter Geliebten Valerie war, von der er sich vor wenigen Wochen abrupt getrennt hatte und die danach in "ein tiefes Loch" gefallen war.

"Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten", hat der Dramatiker Henrik Ibsen einst formuliert. Ohne schlüssige Antworten (wer verbarg sich nun wirklich hinter der Loos-Figur?) entlässt auch Markus Werner den Leser aus diesem raffinierten, psychologisch subtil konstruierten Meisterwerk, das sich vom zunächst sanft tröpfelnden erzählerischen Rinnsal in eine überschäumende literarische Brandung verwandelt.

"Am Hang" ist ein faszinierendes, hoch intelligentes Leseabenteuer.

Markus Werner: Am Hang .

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2004, 190 Seiten; 17,80 Euro.