Essen. Die Naturheilkundlerin Anna Paul gilt als Pionierin der Mind-Body-Medizin. Sie meint, dass Selbstheilungskräfte viel bewirken können.

Müde, abgeschlagen – man fühlt sich nicht fit. Mal schmerzt es im Gelenk, mal drückt der Magen. Doch statt sofort nach Medikamenten zu greifen, sollte man seine Selbstheilungskräfte stärken, sagt Anna Paul. Die Gesundheitswissenschaftlerin an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen gilt als Pionierin der sogenannten Mind-Body-Medizin, die Körper und Seele als Einheit sieht.

Frau Paul, ist die Aktivierung der Selbstheilungskräfte nur bei Befindlichkeitsstörungen eine Hilfe – oder auch, wenn der Mensch schon richtig krank ist?

Anna Paul: Auf jeden Fall auch dann, wenn schon schwere Symptome einer Krankheit vorliegen. Ich möchte Ihnen von einer Patientin berichten. Sie war Mitte 40 und litt schon jahrelang unter zermürbenden Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen. Zudem hatte sie schlechte Cholesterinwerte und einen erhöhten Blutdruck, der mit Medikamenten eingestellt werden musste. Außerdem wog die kleine Frau bald 90 Kilo. Die Schmerzmittel, die sie jahrelang genommen hatte, brachten ihr keine Linderung mehr. Heute aber ist sie schmerzfrei. Sie hat abgenommen, Blutdruck und Blutwerte sind wieder im Normbereich.

Warum ging es der Frau so schlecht?

Paul: Sie hatte sich seit Jahren immer weniger bewegt, um Schmerzen zu vermeiden. Hatte dabei 20 Kilo Übergewicht angesammelt. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, ihren Körper durch mehr Bewegung zu entlasten, auch nicht durch gezielte Entspannung. Stattdessen nahm sie Medikamente, gegen die der Körper mit der Zeit unempfindlich wurde. So hatten sich ihre Beschwerden immer weiter verstärkt. Hinzu kam, dass sie nie Ruhe hatte, um zu entspannen. In unserer modernen Gesellschaft sind wir einer Dauerbelastung ausgesetzt.

Naturheilkundlerin und Gesundheitspädagogin Anna Paul. Sie hat das Buch geschrieben „Hallo Körper, du kannst das!“.
Naturheilkundlerin und Gesundheitspädagogin Anna Paul. Sie hat das Buch geschrieben „Hallo Körper, du kannst das!“. © Stephanie Wolff | Stephanie Wolff

Wie viele Patienten gibt es etwa, die sozusagen über Stress krank geworden sind?

Paul: Jeder dritte Patient in Deutschland kommt mit mindestens einer solchen somatoformen, also vermutlich seelisch beeinflussten Störung zu seinem Hausarzt und jeder zweite hat Symptome, für die es keine naturwissenschaftlich-medizinische Erklärung gibt.

Selbstheilungskräfte lassen sich durch Selbstfürsorge stärken, sagen Sie. Ganz schön viel Arbeit im durchgetakteten Alltag.

Paul: Selbstfürsorge muss nicht viel Zeit kosten. Dass Bewegung gesund ist und Obst und Gemüse es auch sind, das weiß jeder, aber dass zum Beispiel kleine gezielte Pausen am Schreibtisch sehr erfolgreich das Stresslevel senken – einfach durch diesen Moment der Besinnung, einige Atemübungen und die Erfahrung, etwas für sich selbst tun zu können – das weiß man erst, wenn man gelernt hat, wie man Gutes für sich tut.

Vielfach ist die Rede von Selbstheilung durch positives Denken. Wie funktioniert das?

Paul: Der Umgang mit Gedanken ist ein wichtiger Teil unseres Therapieansatzes in der Mind-Body-Medizin. Der wichtigste Lernschritt dabei: Gedanken sind nicht die Wirklichkeit. Sie haben mehr mit uns zu tun als mit der Realität. Da gibt es eine gute Technik: Sie überlegen sich als Erstes, was der Auslöser bestimmter Gedanken war. Sie fragen danach, wo, wann und was geschieht. Da geht es um Ihre Wahrnehmung. Sie realisieren, welche Bewertung Sie quasi automatisch vornehmen und Sie denken über die Konsequenzen nach, über die ausgelösten Gefühle, die Körperreaktion und die Verhaltensreaktion. Dann vergleichen Sie das mit der Realität – ist es wirklich so schlimm geworden, wie Sie dachten? Hatte der Arbeitskollege tatsächlich eine böse Absicht? Hatten Sie wirklich nur Pech an diesem Tag? Wenn Sie mit sich selbst so eine kritische Diskussion führen, dann können Sie lernen, stressverschärfende Gedanken zu blockieren.

Das Thema Achtsamkeit ist ja zurzeit im Trend. Was bedeutet Achtsamkeit im Alltag?

Paul: Achtsamkeit bedeutet vor allem das, was man tut, mit Bedacht zu tun. Ein Mönch beschrieb das so, er sagte: Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich atme, dann atme ich. Das bedeutet, im gegenwärtigen Moment zu leben, etwas, was wir selten tun, meist denken wir an das, was wir in der Vergangenheit erfahren haben, oder sind mit unseren Gedanken schon in der Zukunft und denken über die Folgen nach. Augenpausen, wenn Sie die Hände vor die geschlossenen Augen legen, oder das Kneten des gesamten Ohres zwischen Daumen und Zeigefinger bis es warm ist, sind Entspannungsübungen, die der besseren Selbstachtsamkeit dienen.

Was sagen Sie zur Heilkraft der schönen Gefühle? Ein Wunschtraum?

Paul: Gefühle rücken zunehmend in das Interesse der Wissenschaft, denn sie steuern die Ausschüttung von stimulierenden oder beruhigenden Botenstoffen und haben deshalb großen Einfluss auf unsere Gesundheit. Liebe und Empathie können körperliche Schmerzen lindern, etwa wenn ein Partner die Hand einer gebärenden Frau hält. Glück lässt sich zu einem gewissen Teil „trainieren“ – man muss schöne Momente zulassen, wertschätzen und sich vergegenwärtigen. Hierfür hat die positive Psychologie viele Beispiele und die Hirnforschung kann die Effekte im Gehirn zeigen.

Auf den Punkt gebracht: Was ist das Wichtigste für die Stimulation der Selbstheilungskräfte?

Paul: Dass wir unsere Instinkte wiederentdecken und schulen, um zu erkennen, wie viel wir selbst für uns tun können.