Berlin. Anstieg um 15 Prozent: Nach jeder Pandemiewelle erkranken deutlich mehr Jungen und Mädchen an der Diabetes Typ 1. Forscher rätseln.

Kinder und Jugendliche haben in der Corona-Pandemie von allen Bevölkerungsgruppen die größten Opfer gebracht – diese Feststellung gilt mittlerweile als Binse. Doch sie bekommt durch eine aktuelle Studie neue Nahrung: Denn den Pandemiewellen folgte mit jeweils ziemlich genau einem Vierteljahr Abstand eine andere Krankheitswelle: Deutlich mehr Jungen und Mädchen, als eigentlich zu erwarten war, erkrankten rund drei Monate nach den jeweils höchsten Covid-19-Fallzahlen an Diabetes Typ 1.

Diesen alarmierenden Befund hat ein Team um den Kinderdiabetologen Clemens Kamrath von der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen festgestellt. Eine zweite Erkenntnis lautet, dass umso häufiger Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde, je jünger die Mädchen und Jungen waren.

Typ-1-Diabetes heißt auch juveniler (jugendlicher) Diabetes, denn er tritt vor allem bei Minderjährigen auf. Er ist die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter. Es handelt sich um eine sogenannte Autoimmunerkrankung, das heißt: Das Immunsystem des Menschen richtet sich gegen Teile des Körpers selbst. Lesen Sie auch:Diese Studie zu Long-Covid bei Kindern macht Hoffnung

Diabetes Typ 1 ist nicht heilbar

Beim Typ-1-Diabetes zerstören körpereigene Abwehrzellen Insulin produzierende Zellen in der Bauchspeicheldrüse. Somit kann der Körper überhaupt kein Insulin mehr herstellen, das er aber für die Verwertung von Zucker und anderen Kohlenhydraten benötigt. Typ-1-Diabetes ist nicht heilbar, die Erkrankten müssen ihr ganzes Leben lang Insulin von außen zuführen.

Schon länger vermuten Wissenschaftler, dass Typ-1-Diabetes häufiger nach Infektionen auftritt. Zusätzlich zur genetischen Anlage wirkt die ansteckende Krankheit mutmaßlich als Auslöser.

Während die Gießener Forschenden sich nur den Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen anschauten, sieht das bei einer zweiten aktuellen Studie zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Covid-19 und Diabetes bei Minderjährigen anders aus: Sie stammt von der US-Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention), unterscheidet aber nicht zwischen Diabetes Typ 1 und 2, dem sogenannten Altersdiabetes.

Kinder mit Diabetes Typ 1 müssen regelmäßig ihren Blutzuckerspiegel messen.
Kinder mit Diabetes Typ 1 müssen regelmäßig ihren Blutzuckerspiegel messen. © iStock | istock

Kritik an Studie der US-Gesundheitsbehörde

Allen Diabetes-Erkrankungen gemeinsam ist ein ständig zu hoher Zuckerspiegel im Blut, weswegen die Krankheit im Deutschen auch Zuckerkrankheit genannt wird. Typ 2 ist wesentlich häufiger als Typ 1.

Einer der Hauptunterschiede zwischen den beiden Formen ist, dass Typ-2-Diabetes durch eine ungesunde Lebensweise – starkes Übergewicht und Bewegungsmangel – entsteht und durch eine Änderung des Ernährungsstils sowie anderer alltäglicher Gewohnheiten beeinflusst werden kann. Weil heutzutage schon viele Kinder und Jugendliche zu wenig Sport treiben und fettleibig sind, gibt es insbesondere in den USA zunehmend mehr Fälle von „Altersdiabetes“ auch bei Minderjährigen.

Die fehlende Differenzierung zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes in der US-Studie ist einer der Hauptkritikpunkte an der CDC-Untersuchung, fehlende Repräsentativität ein zweiter. Außerdem legte die Studie aus den Vereinigten Staaten ihr Hauptaugenmerk auf einen anderen Zusammenhang, als die Gießener Untersuchung es tat: Die US-Forschenden versuchten, einen Zusammenhang zu finden zwischen einer Sars-CoV-2-Infektion und einem darauf folgenden Diabetes-Ausbruch bei Jungen und Mädchen.

„Wir glauben, dass es nicht direkt der Erreger ist, der den Diabetes auslöst“

Das Gießener Team wies zwar einen Zusammenhang mit den Pandemiewellen nach. Studienleiter Kamrath ist sich aber ziemlich sicher, dass die in seine Studie einbezogenen Kinder und Jugendlichen eher nicht mit dem damals neuartigen Coronavirus infiziert waren. Genau feststellen lässt sich nicht mehr, ob die neu an Diabetes Typ 1 erkrankten Kinder zuvor Covid-19 durchgemacht haben, weil aus den ersten Monaten der Pandemie systematische Untersuchungen dazu fehlen. Darauf weist Reinhard W. Holl von der Universität Ulm hin, der ein Register über Diabetes-Erkrankungen führt und dem Gießener Team für die Studie zuarbeitete.

Studienleiter Kamrath erläutert: „Irgendwie ist es schon die Pandemie, aber die Pandemie hat viele Facetten.“ Er vermutet einen Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Eindämmung der jeweiligen Pandemiewellen: In der ersten Welle seien Schulen und Kindergärten geschlossen worden, in der zweiten Welle aber nicht dauerhaft. Somit infizierten sich in der zweiten Pandemiewelle deutlich mehr Mädchen und Jungen mit Sars-CoV-2. Die neu diagnostizierten Diabetesfälle ein Vierteljahr später waren aber nach beiden Pandemiewellen zahlenmäßig ungefähr gleich. „Wir glauben daher, dass es nicht direkt der Erreger ist, der den Diabetes auslöst“, sagt Kamrath.

Stärkster Diabetes-Anstieg bei Kindern unter sechs Jahren

Ganz klar sei aber neben dem zeitlichen Zusammenhang ein Alterseinfluss erkennbar. Bei Jungen und Mädchen unter sechs Jahren trat wesentlich häufiger ein Typ-1-Diabetes neu auf als bei Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren, während sich die Zahl der Jugendlichen ab zwölf Jahren mit einem neu dia­gnostizierten Typ-1-Diabetes nicht besonders stark von den Erfahrungswerten abhob.

Kamrath geht von der sogenannten Hygienethese aus: Kinder hätten im Winter 2020/21 wegen der Reduzierung von Sozialkontakten kaum harmlose Infektionen wie Erkältungen durchgemacht, sagt er.

Das Social Distancing könnte, so die Hypothese der Gießener Studie, bei den betroffenen Kindern eine Autoimmunreaktion ausgelöst und zu der auffälligen Häufung von Typ-1-Diabetes-Fällen geführt haben. „Infektionen können Typ-1-Diabetes auslösen, aber zu wenig Infektionen könnten auch einen Einfluss haben“, fasst der Wissenschaftler seine These zusammen.

Psychischer Stress könnte zum Anstieg beitragen

Und je jünger die Kinder, desto weniger trainiert ist das Immunsystem – das würde erklären, warum Klein- und Kindergartenkinder häufiger betroffen waren als ältere Jungen und Mädchen. Daneben könnte auch der psychische Stress durch die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung eine Rolle spielen.

Zur Studie:

Die Gießener-Diabetes-Studie erhob zwischen Januar 2020 und Juni 2021 bundesweit, wie oft Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen neu auftrat, und verglich dies mit Zahlen der Jahre 2011 bis 2019. Die Daten stammen aus dem bundesweiten DPV-Register (Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation), das der Kinderdiabetologe Reinhard W. Holl an der Universität Ulm führt.

Im Untersuchungszeitraum wurden 5162 Kinder und Jugendliche mit neu diagnostiziertem Typ-1-Diabetes registriert – 15 Prozent mehr (24,4 statt 21,1 Fälle pro 100.000 Kinder und Jahr), als statistisch zu erwarten war.

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.