Washington/Halifax. Ein Mann hat in Kanada 22 Menschen getötet. Er selbst wurde von der Polizei erschossen. Nun gibt es Hinweise auf den Tathintergrund.

In seinem Jahrbuch nach Abschluss der Highschool 1986 findet sich ein Satz über Gabriel Wortman, der die Ermittler in der schlimmsten Schusswaffen-Tragödie in der jüngeren Geschichte Kanadas aufhorchen lässt.

„Gabes Zukunft könnte darin liegen, ein Officer der RCPM zu werden”, heißt es da – der „Royal Canadian Mounted Police”. Also ein „Mountie”, wie die hoch angesehenen und beliebten kanadischen Polizisten in ihren roten Uniformen genannt werden.

Ob der 51-Jährige, der zwischen Samstagnacht und Sonntagmittag in der beschaulichen und landschaftlich spektakulären Provinz Nova Scotia während eines Amoklaufs 22 Menschen erschoss und später offenbar nach einem Feuergefecht mit der Polizei starb, jemals diesen Karriereweg einschlagen wollte, ist bislang nicht bekannt.

51-Jähriger erschießt 22 Menschen – Tat gibt Rätsel auf

Dass er bei der Bluttat zwischenzeitlich verbotenerweise eine Polizeiuniform trug und in einem bei einer Auktion ersteigerten alten Polizeiwagen unterwegs war, der nach akribischem Aufmotzen von einem echten Streifenwagen kaum zu unterscheiden war, gibt Chris Leather jedoch zu denken. „Das spricht dafür, dass es keine Zufallstat war”, sagte der regionale Polizeichef bei einer Pressekonferenz.

War es der Racheakt eines Mannes, der nach Angaben von Nachbarn besessen war von Polizei-Memorabilia und regelmäßig alte Polizeiwagen restaurierte?

Spielte die Tatsache eine Rolle, dass Coronavirus-bedingt das alt eingesessene Zahntechnik-Labor Wortmans in Dartmouth nahe der Provinzhauptstadt Halifax seit Wochen zwangsgeschlossen war?

Kannte Wortman, der als wohlhabend und alkoholkrank beschrieben wurde, die Opfer oder hat er wahllos Menschen getötet?

Hinterließ er einen Abschiedsbrief?

Wo hatte er im Anbetracht der im Vergleich zu den USA strengen Gesetze die Waffen her?

Der Tatort befindet sich in der Provinz Nova Scotia im Westen Kanadas.
Der Tatort befindet sich in der Provinz Nova Scotia im Westen Kanadas. © dpa | dpa-infografik GmbH

Täter stritt sich mit Freundin – Auslöser von Amoklauf?

„Wir sind noch weit entfernt davon, ein Motiv nennen zu können”, sagte Kanadas Polizeichefin Brenda Lucki Stunden nach der Tat im Fernsehen, „es gibt viele Tatorte und offene Fragen.”

Am Freitag meldeten sich die Ermittler erneut zu Wort – mit Hinweisen auf den möglichen Auslöser der Tat. Ein Streit zwischen dem späteren Täter und seiner Freundin könnte „möglicherweise der Katalysator gewesen sein, der das Ganze gestartet hat“, sagte Ermittler Darren Campbell bei einer Pressekonferenz. Der Mann habe sich mit seiner Freundin gestritten und diese handgreiflich angegriffen, sie habe aber fliehen können.

Die Freundin habe sich nach dem Angriff in Wäldern versteckt, später die Polizei informiert und die Schlüssel-Informationen zur Aufklärung der Tat geliefert, teilten die Ermittler mit. Eine geplante Tat könne bislang ebenfalls nicht ausgeschlossen werden.

Nach einem Notruf fand die Polizei in einem Haus mehrere Leichen

Bis Dienstag musste die Polizei die Zahl der Todesopfer mehrfach nach oben korrigieren. Bislang geht sie nun von 23 Toten aus, unter ihnen auch der Todesschütze selbst. Ein Opfer war erst 17 Jahre alt, wie die Polizei am Dienstag mitteilte.

Nach ihren Schilderungen begann die Tragödie am Samstagabend kurz vor Mitternacht im Küstenstädtchen Portapique 130 Kilometer nördlich von Halifax. Ein winziges Kaff mit knapp 100 regelmäßigen Bewohnern, in dem Wortman mehrere Immobilien besaß.

Nach einem Notruf fand die Polizei dort in einem Haus mehrere Leichen. Anwohner wurden aufgefordert, sich in ihren Häusern zu verbarrikadieren, da man den Täter in der Nähe wähnte. Es kam zu einer Verfolgungsjagd.

Der Amokläufer stoppte ein Fahrzeug und erschoss die Insassen

Augenzeugen berichteten von Bränden auf mehreren Grundstücken und brennenden Polizeiautos. Die Polizistin Heidi Stevenson, zwei Kinder, seit 23 Jahren im Dienst gewesen, kam bei einer Konfrontation mit Wortman ums Leben. Ein männlicher Kollege wurde angeschossen, die Verletzungen waren nicht lebensgefährlich.

Im Verlauf der Flucht, die bislang nur in Umrissen rekonstruiert ist, stoppte Wortman (verkleidet als „Mountie” im Pseudo-Polizeiwagen) nach Recherchen der Zeitung „The Globe and Mail” auf einer Straße in der Nähe der Ortschaft Ebert ein Fahrzeug und erschoss die Insassen. Später soll der Todesschütze auf einen neutralen Chevrolet-SUV umgestiegen sein.

Bei Enfield nahe Halifax war am Sonntagmittag Endstation des Amoklaufs, der sich über zwölf Stunden und fast 100 Kilometer erstreckte. Wortman, so die Polizei, wurde an einer Tankstelle festgenommen. Wenig später habe es ein Feuergefecht gegeben, das der Täter nicht überlebte, berichtete das kanadische Fernsehen CTV. Die Umstände der Eskalation werden von einer Spezial-Einheit der Polizei untersucht.

Die Angehörigen der Opfer fragen: „Warum?“

Stephen McNeil, der Premierminister Nova Scotias, sprach von einem „der sinnlosesten Gewaltakte in der Geschichte unseres Landes”. Erste Angehörige von Opfern wie der Krankenschwester Heather O’Brien oder der Grundschullehrerin Lisa McCully meldeten sich erschüttert über Facebook zu Wort und fragten: „Warum?” Kanadas Premierminister Justin Trudeau erklärte: „Zusammen werden wir mit den Familien dieser Opfer trauern und ihnen helfen, durch diese schwierige Zeit zu kommen.”

Die Tragödie in Nova Scotia ruft in Kanada Erinnerungen an den Nikolaustag 1989 wach. Damals erschoss Marc Lepine, ein junger Mann mit krankhaftem Hass auf emanzipierte Frauen, in der Universität von Montreal 14 Studentinnen und verletzte zwölf weitere Menschen, bevor er sich selbst richtete. Es war bis dahin der größte Massenmord in der kanadischen Geschichte.

Amokläufe in den USA keine Seltenheit

In den USA kommt es im Gegensatz zu Kanada häufig zu tödlichen Schießereien. Ende November hatte ein Mann im US-Bundesstaat Oklahoma zwei Menschen erschossen. In Santa Clarita hatte es im selben Monat einen Amoklauf an einer Schule gegeben, bei dem zwei Schüler starben.