Berlin. Der Pharmakonzern Novartis vergibt das Medikament Zolgensma für Kleinkinder über eine Lotterie. Warum es daran massive Kritik gibt.

Eine zynische Überlebenslotterie? Der Schweizer Pharmakonzern Novartis verlost weltweit 100 Dosen eines extrem teuren Medikaments, das Kleinkindern das Leben retten kann. Oder ist es eine großzügige Aktion des Herstellers?

Spinale Muskelatrophie (SMA) – Kleinkinder, bei denen die schwerste Form dieser Krankheit festgestellt wird, sterben oft schon vor ihrem zweiten Geburtstag. Sie haben Schwierigkeiten beim Atmen, Schlucken und können ihren Kopf kaum hochhalten. Das zwei Millionen Euro teure Medikament Zolgensma soll in den USA schon 200 Kindern geholfen helfen, wenn alle anderen Therapien bei der Erbkrankheit versagen. In Europa ist Zolgensma aber noch nicht zugelassen.

Kritik an der Medikamentenlotterie von Novartis für Zolgensma

Der Schweizer Pharmakonzern Novartis verlost ab Montag (3. Februar) Behandlungen mit einem der teuersten Medikamente der Welt. Am Montag wird das erste Los für die Gentherapie gezogen, alle paar Wochen ein weiteres. Wie viele Bewerbungen vorliegen, sagt Novartis nicht. Wenn das Heimatland des Kindes die Behandlung mit dem Medikament erlaubt, kann die Therapie mit Zolgensma schnell beginnen.

Die Kritik an der Medikamentenlotterie ist massiv. „Novartis unterläuft mit dieser Abgabe aus Mitleid die Zulassung, um einen Fuß im Markt zu haben und so Druck zu machen, dass die Zulassung gar nicht mehr erforderlich zu sein scheint“, sagt der Medizinethiker Norbert W. Paul, Professor der Universitätsmedizin Mainz.

Standardtherapie hilft nicht allen

Das Losverfahren lehnt er ab. Es sei wie eine verdeckte Marketingkampagne. Es entstehe der Eindruck, als handele es sich bei dem Medikament um eine Zauberkugel, und als sei die Standardtherapie mit dem Medikament Spinraza schlechter oder eine Billigvariante. „Dem ist ja gar nicht so“, betont Paul. „Aber natürlich greifen verzweifelte Eltern nach jedem Strohhalm. Um so bedenklicher ist eine Verlosung.“

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Ethischer wäre es seiner Ansicht nach gewesen, klare Kriterien als Voraussetzung für die Verabreichung des Medikamentes festzulegen, sagt der Professor. Zum Beispiel, ob es für die Kinder alternative Therapien gebe, ob eine Klinik in der Nähe sei, die mit Gentherapie umgehen könne, ob eine Nachsorge und im Notfall auch eine Krisenversorgung möglich sei.

Betroffene Mutter: „Wenigstens macht Novartis irgendetwas“

Ablehnung kommt auch vom Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), Joachim Sproß. „Das ist eine Dilemma-Situation auf Kosten der Eltern“, sagt er. „Wenn jemand die medizinische Indikation hat, muss er Zugang zu dem Medikament haben“, verlangt er. Gesundheitsministerium, Zulassungsstellen, Ärzte und Eltern müssten endlich an einen Tisch kommen, um den besten Weg nach vorn zu finden. „Natürlich freuen wir uns grundsätzlich, dass es Therapien gibt. Da hätte vor fünf Jahren noch niemand mit gerechnet.“

Eine betroffene Mutter kann der Lotterie auch etwas Positives abgewinnen. „Natürlich ist eine Lotterie nicht richtig, aber wenigstens macht Novartis irgendetwas“, sagt Marina Mantel. Ihr Sohn Michael kommt 2018 auf die Welt. „Sechs Wochen dachten wir, er wäre kerngesund, dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr“, erzählt sie. Diagnose: SMA. Die Familie ist am Boden zerstört.

Herstellungskapazitäten für Zolgensma sind begrenzt

Michael bekommt das erst 2017 zugelassene Medikament Spinraza der US-Firma Biogen. Michael hilft es nicht. „Er bekam Lungenprobleme, konnte Schleim kaum abhusten“, sagt Mantel. Knapp 50 Kinder werden in Deutschland wie Michael mit der schlimmsten Form von SMA im Jahr geboren.

Dann hört Mantel von Zolgensma von Novartis, das im Mai 2019 in den USA zugelassen wird. Sie kämpft, will eine Härtefallausnahme. Nach langem Kampf lenkt ihre Krankenkasse ein. Michael bekommt das Medikament im September 2019, obwohl es in Europa noch nicht zugelassen ist. „Es geht ihm gut, er kann sich jetzt selbstständig umdrehen, er kann sitzen“, sagt sie heute. Die Mutter kritisiert, dass die Zulassung von Zolgensma in Europa auf sich warten lässt.

Auf das Losverfahren kam Novartis nach eigenen Angaben mit einem Ethikrat, weil es die Therapie weltweit so schnell wie möglich zur Verfügung stellen wollte, sagt eine Novartis-Sprecherin. Die Herstellungskapazitäten seien begrenzt. Mehr als 100 Dosen könne das einzige Werk in Illinois in den USA im Jahr nicht zusätzlich zu den erwarteten Bestellungen liefern.

Das zwei Millionen Euro teure Zolgensma, das nur einmal verabreicht wird, sei über zehn Jahre gerechnet halb so teuer wie Spinraza, das alle vier Monate gespritzt werden muss. Um allen Patienten eine faire Chance zu geben, sei nur das Zufallsprinzip in Frage gekommen, so die Sprecherin. „Es ist ein Dilemma“, räumt sie ein. „Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es vorerst an Alternativvorschlägen.“ (aky/dpa)