Paris. In Frankreich bahnt sich ein Mammut-Prozess an. Im Mittelpunkt: Ein Pharmakonzern, der 500 Menschenleben auf dem Gewissen haben soll.

Es ist ein Pharmaskandal, der das Land erschütterte und jetzt in dem voraussichtlich längsten Prozess der französischen Nachkriegsgeschichte verhandelt wird: Die Diätpille Mediator des Großkonzerns Servier soll mindestens 500 Menschen das Leben gekostet haben – es könnten auch mehr als 2100 gewesen sein.

Mehr als 3500 Patienten mussten im Krankenhaus behandelt werden. Rund fünf Millionen Menschen sollen das Medikament mit dem Wirkstoff Benfluorex eingenommen haben. In Deutschland war es nie auf dem Markt.

Diätpille Mediator: Frühe Anzeichen auf Herz-Kreislauf-Schäden

Zehn Jahre nach dem Verbot müssen sich seit Montag zwölf Beschuldigte, das Unternehmen selbst sowie zehn weitere Organisationen und Firmen vor dem Gericht in Paris verantworten – darunter die nationale Arzneimittelbehörde ANSM, die Untersuchungen verschleppt haben soll.

Die Verhandlungen sollen bis April 2020 andauern. 2684 Opfer haben geklagt, mehr als 100 Zeugen sind geladen, 376 Anwälte engagiert. Tausende Opfer ließen sich bereits auf Entschädigungsangebote ein. Nach eigenen Angaben zahlte Servier dafür insgesamt 164,4 Millionen Euro.

Der Pharmakonzern brachte Mediator 1979 als Diabetes-Medikament auf den Markt. Es wurde jedoch auch häufig Übergewichtigen als Appetitzügler verschrieben. Früh gab es Anzeichen, dass es Herz-Kreislauf-Schäden hervorrufen könnte.

Pharmakonzern Servier log aus Profitgier

„Es handelt sich um Schlussfolgerungen aus Hypothesen“, hatte das Unternehmen jedoch immer wieder verlauten lassen. Erst 2009 wurde das Medikament vom Markt genommen. Jahre, nachdem es bereits in den USA, in Italien und Spanien verboten worden war.

2012 noch räumte Konzerngründer Jacques Servier lediglich drei Tote ein. Der Milliardär starb vor fünf Jahren im Alter von 92 Jahren.

Servier-Anwalt: „Vor 2009 gab es keinen Hinweis auf derartige Risiken“

„Die Labore von Servier haben bewusst die gefährlichen Nebenwirkungen des Medikaments verschwiegen und gelogen – für den Profit“, so Opferanwalt Charles Joseph-Oudin zum Sender TV5 Monde. „Ich will verstehen, wie ein Medikament, dessen Risiken bekannt waren, so lange verkauft werden konnte.“

François de Castro, Anwalt des Konzerns, behauptet dagegen: „Vor 2009 gab es keinen Hinweis auf derartige Risiken.“ Opferanwalt Oudin will, dass die Geschädigten in dem Prozess zu Wort kommen, dass sie schildern, wie Mediator sie gesundheitlich und in der Folge auch finanziell ruiniert hat.

Geschädigte Ercole: „Mein Leben ist ruiniert“

Der Konzern habe gewusst, dass er „Gift“ verkaufe. „Vor Gericht soll an die grausame Lebenswirklichkeit der Opfer erinnert werden“, sagt er. „Ich will vermeiden, dass es ein Prozess der Experten wird.“

Joy Ercole ist eine der Zeuginnen. Die 71-Jährige nahm vor elf Jahren ein halbes Jahr lang Mediator, seitdem ist ihr Herz schwer geschädigt. „Mein Leben ist ruiniert“, sagt sie. „Ich bin zu einem langsamen Tod verdammt.“

Ärztin Frachon kämpft für die Wahrheit

Auch die Lungenärztin Irène Frachon aus Brest wird aussagen. Sie war es, die durch ihren beharrlichen Kampf den Skandal ans Licht holte. 2007 brachte sie die Leiden eines ihrer Patienten mit Mediator in Zusammenhang. Sie schlug Alarm – und wurde abgewiesen.

Jetzt, nach einem Film und einem Buch, gilt sie als Frankreichs Gegenstück zur US-Umweltheldin Erin Brockovich: „Ich bin immer noch wütend“, sagt sie. „Aber die Stunde der Wahrheit ist gekommen.“

Das ist der Pharmakonzern Servier

Servier wurde 1954 gegründet und ist mit 22.000 Mitarbeitern der zweitgrößte Pharmakonzern Frankreichs nach Sanofi. Er bringt unter dem Markennamen Biogaran Generika, also wirkstoffgleiche Arzneimittel-Kopien, auf den Markt. In Deutschland vertreibt Servier Medikamente gegen Herzerkrankungen und Depression.