Paris. Wer wird siegen? Die Traditionalisten oder die Modernisierer? Seit die französische Regierung einen internationalen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau der Mitte April durch einen Großbrand schwer beschädigten Pariser Kathedrale Notre-Dame angekündigt hat, ist in Frankreich ein heftiger Streit um das neue Gesicht der Kirche entbrannt.
Während die einen eine originalgetreue Restauration des frühgotischen Prachtbaus fordern, plädieren die anderen nicht weniger nachdrücklich für eine „scheuklappenfreie“ Neugestaltung der acht Jahrhunderte alten Basilika.
Die Fantasien von Architekten aus aller Welt, die erste Entwürfe für die Renovierung der Pariser Kathedrale vorstellten, schießen regelrecht in den Himmel. So schlägt ein brasilianisches Büro ein neues Dach aus Kirchenfenstern vor. Für besonderes Aufsehen sorgt ein russischer Architekt: Er stellt sich für Notre-Dame ein avantgardistisches Glasdach vor – für die Traditionalisten ein Schlag ins Gesicht.
Auch nicht viel besser aus ihrer Sicht ist der Vorschlag eines Pariser Designers, der mit einer riesigen goldenen Flamme auf dem restaurierten Dachrücken ins Rennen geht. Und was das Projekt des slowakischen Architekten angeht, der mit der Ökobewegung kokettiert, herrscht auch eher Skepsis: Er nämlich will einen Wald aus Bäumen auf dem Dachstuhl ansiedeln, dessen ursprüngliche Holzkonstruktion im Volksmund „la forêt“ (Wald) genannt wurde.
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Macron will Renovierung rasch vorantreiben
Ob Glas, Flamme oder Wald – der Aufschrei ist groß: 1170 französische und internationale Kunstexperten machen in einer Petition darauf aufmerksam, dass die Expertise der Denkmalschützer übergangen zu werden droht. Sie fordern dazu auf, sich Zeit zu nehmen, und werfen dem Präsidenten Emmanuel Macron vor, die „Komplexität des Denkens“ auf dem „Altar der Effizienz“ zu opfern.
Jüngst aber haben die Modernisierer den ersten Sieg errungen: Nach einer hitzigen und mehr als 13-stündigen Debatte verabschiedete die Nationalversammlung ein Sondergesetz, welches es der Regierung erlaubt, bei der Renovierung von Notre-Dame geltende Denkmal-, Urbanismus- und Umweltschutzbestimmungen zu unterlaufen.
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Das Votum der Abgeordneten soll Macron die Möglichkeit geben, ein noch in der Brandnacht ausgesprochenes Versprechen einzulösen: Notre-Dame werde wieder aufgebaut, hatte das Staatsoberhaupt gelobt – und zwar innerhalb von fünf Jahren und „schöner als zuvor“. Grund genug für die Opposition, dem Präsidenten vorzuwerfen, er wolle das Zepter der Renovierung an sich reißen und die eigentlich zuständigen Gremien kaltstellen. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei Macrons „Größenwahn“.
Gesamtkosten dürften zwischen 600 und 800 Millionen Euro liegen
Jedenfalls scheint der Präsident fest entschlossen, die Renovierung so rasch voranzutreiben, dass sie vor dem Beginn der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2024 in Paris abgeschlossen ist. Zum Entsetzen der Traditionalisten hat Macron bereits erklärt, dass er sich beim Wiederaufbau des eingestürzten Mittelturms durchaus eine „zeitgenössische Geste“, also eine moderne Gestaltung, vorstellen könne.
Auch wenn die Gesamtkosten der Renovierung noch nicht im Detail beziffert werden können – Schätzungen gehen davon aus, dass sie zwischen 600 und 800 Millionen Euro liegen dürften. Fest steht, dass der Wiederaufbau aber nicht auf Finanzierungsprobleme stoßen wird. Bereits direkt nach dem Brand sind Spendenzusagen in Höhe von einer Milliarde Euro eingegangen. Allein die drei reichsten Familien des Landes haben zusammen eine halbe Milliarde Euro gespendet. Weitere Millionenbeträge sagten Unternehmen aus aller Welt zu. Auch Denkmalschutzorganisationen spielten in kürzester Zeit mehr als 150 Millionen Euro ein.
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