Hamburg. Er war ein Jetset-Typ und Opfer von Kidnappern. Heute leitet Bodo Janssen eine Hotelkette – und lässt Mitarbeiter ihr Gehalt bestimmen.

Es ist 21.30 Uhr am 6. Juni 1998, und Bodo Janssen betritt eines der Grindelhochhäuser an der Hallerstraße in Hamburg. An seiner Seite sein Bekannter, Drogendealer, eine ideale Begleitung also für die geplante Kieztour. So soll die Nacht aussehen: Champagner mit Red Bull, Kokain, von sich selbst begeistert sein. Irgendeine Frau klarmachen. Ihr Herz brechen. Wieder verschwinden. Noch mehr von sich begeistert sein. Das Übliche.

Vorher nur noch schnell Geld holen, der Dealer sagt, sie bekämen es bei jemandem in der vierten Etage. Die Tür geht auf. Die Sekunde, in der Bodo Janssen begreift: Fuck! Drei maskierte Männer, bewaffnet, drücken den 25-Jährigen auf einen Sessel, ruck, zuck Panzerband um seine Hände, der Gegner meint es ernst: „Wenn du Scheiße baust, wirst nicht nur du sterben, sondern jeder aus deiner Familie.“

Kidnapping mitten in Hamburg. Der Boss der Entführer nennt sich Schakal, fordert zehn Millionen Mark von Janssens Eltern, die eine Bauträgerfirma in Emden betreiben und einige Hotels managen. Läuft ganz gut, aber nicht gut genug für zehn Millionen.

Bodo Janssen muss tagelange psychische Folter durchstehen

Drei Millionen, mehr könne er nicht zusammenbekommen, sagt der verzweifelte Vater den Entführern und schaltet die Polizei ein. Sie quälen ihn mit Scheinhinrichtungen. Die nächsten acht Tage in Bodo Janssens Leben bestehen aus Tod: Ständig eine Pistole am Kopf, sogar beim Pinkeln, Scheinhinrichtungen, Androhung von Verstümmelungen, man würde ihm die Augen ausstechen, die Finger abschneiden, ihn in der Badewanne ausbluten lassen.

Der Richter wird später von völlig unnötiger psychischer Folter sprechen, und dass die Tat gravierende, fortdauernde Auswirkungen auf das Leben des Opfers habe – das bis zu dem Zeitpunkt der Entführung stets nur Täter war.

Entführer hatten nicht vor, Janssen frei zu lassen

Bodo Janssen zu seiner Model-Zeit in den 90er-Jahren.
Bodo Janssen zu seiner Model-Zeit in den 90er-Jahren. © Upstalsboom | Upstalsboom

Am 13. Juni um 11.30 Uhr stürmt das MEK die Wohnung und holt „Mr. Summer 95“, diesen Wettbewerb hatte Janssen, das Model, der Schönling, mal gewonnen, raus. Überlebt. War knapp. Denn später kam raus: Die Kidnapper hatten nie vorgehabt, den Hamburger nach der Geldübergabe laufen zu lassen.

Der Kopf der Bande wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt – und Janssen zu noch mehr Party und Exzess, denn er konnte das Alleinsein nicht mehr ertragen. „Ich habe Unmengen an Rauschmitteln konsumiert und war ein einziges Oberflächenphänomen“, sagt Janssen, der heute nicht mal mehr Alkohol trinkt.

Janssen: Kidnapper haben mir ein neues Leben geschenkt

Der 45-Jährige sitzt im Neni-Restaurant in der HafenCity und ruht in sich. Er müsste nichts mehr bestellen, nichts mehr verlangen; der Chef der Upstalsboom-Hotelkette hat 20 Jahre später alles bei sich, was er braucht. Zufriedenheit, Zuversicht und grünen Tee. Trägt er samt Teemaßlöffel und einem Kirschblütenbecher stets in einem schwarzen Rucksack bei sich.

„Im Grunde war die Entführung eine Chance. Keine gewollte, aber dadurch, dass mir andere das Leben nehmen wollten, haben sie mir ein neues geschenkt“, sagt Janssen. Es sei ihm zwar nicht sofort klar geworden, aber später kam ihm der Gedanke: „Wir können nicht entscheiden, wo und wie wir sterben wollen, aber wir können entscheiden, wo und wie wir leben.“

Vater starb bei Flugzeugabsturz

Bis zu dieser Erkenntnis brauchte es allerdings noch eine weitere Zertrümmerung des scheinbar übermächtigen Egos Janssens. Was die Todesangst nicht endgültig erledigt hatte, schaffte 2010 eine Mitarbeiterbefragung. Bodo Janssen hatte die Leitung von Upstalsboom übernommen, nachdem sein Vater bei einem Flugzeugabsturz umgekommen war.

Der Junior ging zahlenfixiert und zielmanagementbesessen vor, ein Betriebswirt, den jedes Herz fürchtet. Manche Menschen haben ja tatsächlich noch Herzen, das war dem Geschäftsführer der Hotel- und Ferienwohnungskette nur zu dem Zeitpunkt nicht klar. Ihm ging es darum, vor den Shareholdern zu glänzen, nicht vor den Angestellten.

Schlechtes Feedback ließ Janssen umdenken

Diese jedoch gaben in der Befragung vernichtende Noten. „Wir brauchen einen anderen Chef als Bodo Janssen“, lautete das allgemein gängige Urteil. „Mein narzisstisches Ich war zutiefst gekränkt, ein Schock, mein ganzer Körper schmerzte“, erinnert sich Janssen. Der daraufhin nach bewährter Art Koks besorgen und die Trauer wegfeiern wollte?

Nein. Dieses Mal ging er anstatt auf den Kiez ins Kloster. Dort lernte er Pater Anselm Grün und sich selbst kennen: „Ich fühlte mich nicht wichtig, also habe ich mich wichtig gemacht.“ Ob er als Barkeeper locker eine Kiste Weizenbier auf einer Schulter an den Mäusen vorbeitrug, beim Sport jeden Wettkampf gewinnen musste, als Unternehmer eine Erfolgsstory nach der anderen für sich verbuchen wollte – „Ich lechzte einfach nach Anerkennung“, erklärt sich Janssen.

Upstalsboom-Mitarbeiter kriegen frei, um Sinn zu stiften

Das Gute daran, wenn man sich selbst gefunden hat: Man kann nichts mehr verlieren. Das Rebellentum von früher, es steckt noch in ihm, aber heute setzt der dreifache Vater es nicht mehr gegen andere oder sich selbst ein, sondern um Schwächeren zu helfen.

Sechs Schulen sind seit 2016 durch seine und die Hilfe seiner Angestellten bereits in Ruanda entstanden. Nach dem Motto „Der Norden tut Gutes“ erhält jeder Upstalsboomer mehrere freie Tage im Jahr, um etwas Sinnvolles zu tun. So arbeiten die Mitarbeiter zum Beispiel bei der Tafel in Emden mit, organisieren in sozialen Brennpunkten Spiele-Nachmittage oder geben in Grundschulen Kurse über gesundes Essen.

Janssen: Meine Charity ist nicht selbstlos

Die Familien eines Berliner Kinderhospizes dürfen in den Ferienwohnungen kostenlos Urlaub machen. Kürzlich erhielt Janssen einen Brief: „Lieber Herr Janssen, von Herzen Dank für diese letzte gemeinsame Reise. Unsere Tochter konnte in Ruhe gehen.“

Bodo Janssen hat Tränen in den Augen, wenn er davon erzählt. Seine Charity-Aktionen hätten nichts mit Selbstlosigkeit zu tun, und er findet es auch nicht passend, von manchen als „Robin Hood“ bezeichnet zu werden. Im Grunde handele es sich um eine einfache Rechnung: „Je mehr ich gebe, desto mehr bekomme ich zurück.“

Manchmal kommt Zweifel an Janssen Wandel auf

Dementsprechend änderte der früher so schlecht angesehene Boss seine Managementmethoden. „Wer Menschen bewegen will, der muss sie berühren. Ich habe mich meinen Mitarbeitern gegenüber extrem geöffnet, sie dürfen alles von mir wissen.“ Alles? Tatsächlich.

In seinen Büchern und in seinen Vorträgen (Erlöse werden gespendet) lässt der Ex-Playboy ohnehin die Hosen runter, mangelnde Ehrlichkeit kann ihm wirklich niemand vorwerfen. Ab und an jedoch kommt Zweifel auf, ob man ihm den Wandel vom Flopmanager zum Altruisten wirklich abnehmen soll.

Seminare zur Persönlichkeitsbildung

„Diese Kritik verstehe ich. Es erscheint ja unglaubwürdig. Doch ich habe so eine extreme Erfahrung gemacht, da sind die Auswirkungen eben extrem.“ Janssen bietet seinen Mitarbeitern Seminare an, bei denen sie Verletzungen aus der Kindheit zu bewältigen, Selbstbewusstsein aufzubauen und ihre Talente herauszufinden lernen. Außerdem plant er eine Art „Menschenwerkstatt“, so der Arbeitstitel.

In Emden wird ein 600 Quadratmeter großer Raum wie ein Dorfplatz mit großer Küche gestaltet, dort sollen verschiedene Ärzte (darunter Molekularmediziner und Osteopathen) für die 800 Upstalsboomer bereitstehen, um sich um deren Gesundheit zu kümmern.

Janssen: Unternehmen in der Pflicht, für Angestellte zu sorgen

Bei einer physischen Anamnese inklusive großen Blutbilds wird zunächst geguckt, wie es dem Menschen geht, wo er gesundheitlich steht, wohin er will und wie er sein Ziel erreichen könnte. Alle drei Monate folgt ein Check. Alles freiwillig natürlich.

„Die Hälfte des Lebens verbringen wir damit, unsere Gesundheit zu ruinieren, die andere Hälfte damit, sie zu reparieren. Ich möchte Arbeit nicht als Mühe, sondern als Chance sehen, wieder ganz zu werden“, erklärt Janssen. Unternehmen hätten seiner Ansicht nach heute die Pflicht und die Verantwortung, sich um ihre Angestellten zu kümmern, es bliebe ihnen gar keine andere Wahl, wenn sie in Zukunft erfolgreich sein wollen.

Hotels könnten zu betreutem Wohnen umgebaut werden

„Wir kompensieren bei Upstalsboom das, was unser Gesundheitssystem nicht mehr leisten kann“, sagt Janssen. Er kann sich sehr darüber aufregen, wenn ein Kollege drei Monate auf einen wichtigen Arzt-Termin für sein Kind warten muss, oder eine andere Kollegin sich um ihre pflegebedürftigen Eltern sorgt. Also scheint er ein Netzwerk aufbauen zu wollen, in dem all diese Probleme firmenintern gelöst werden können.

Die Angst vor dem Alter beispielsweise. Janssen denkt darüber nach, kleine Hotels zu betreutem Wohnen umbauen zu lassen, die Pflege würde dann von Mitarbeitern und Pflegekräften übernommen. Ein erstes Haus in Emden wird bereits altersgerecht umgebaut.

Gewinne einstreichen nicht mehr Sinn des Handelns

„Als Hotelkette treten wir dafür ein, Menschen zu stärken“, sagt Janssen, der früher so von Zahlen und Statistiken schwärmte. „Die Hotels sind nur noch Mittel zum Zweck, sie bieten eine Plattform, durch Begegnung zu wachsen.“

60 Millionen Euro Umsatz im Jahr macht das Unternehmen, aber Gewinne einstreichen wolle er persönlich nicht mehr. Wirtschaft und Konsum stellen nicht mehr Sinn seines Handelns dar, sondern einzig die Basis der Existenz.

Bodo Janssen zahlt sich fünfstelliges Jahresgehalt

Bitte? Welchem ernsthaften Unternehmer dürfen Umsätze egal sein? Einem, der im Grunde lieber Coach sein möchte. Bodo Janssen zahlt sich ein fünfstelliges Jahresgehalt aus, kein VW-Arbeiter würde dafür zum Dienst erscheinen, sagt er lachend, und fügt hinzu, ob ein Lohnmodell der Zukunft nicht der jeweiligen Lebensphase angepasst sein sollte.

Ein Vater mit kleinen Kindern oder eine Alleinerziehende müssten demnach mehr verdienen als jemand, der seine Schäfchen im Trockenen hat. Weg von der Leistung, hin zum Bedarf. Eines der Upstalsboom-Teams bestimmt sein Gehalt bereits intern, ein anderes hat sich selbst einen Chef suchen dürfen und dessen Lohn festgelegt: „Der Boss bekommt das Doppelte von uns.“

Wenig Kündigungen, geringer Krankenstand

Der Effekt von so viel Eigenverantwortung: geringe Krankheitsraten, kaum Fluktuation bei den Mitarbeitern, Bewerbungen ohne Ende. Jeder will ­Upstalsboomer sein. Wertschöpfung durch Wertschätzung. Besonders investiert Janssen in die persönliche Entwicklung seiner Azubis. Sie sollen nichts Geringeres als das Leben lieben lernen. Alle zwei Jahre können sie sich zu einer besonderen Herausforderung bewerben.

Bodo Janssen und seine Crew im arktischen Eis.
Bodo Janssen und seine Crew im arktischen Eis. © Upstalsboom | Upstalsboom

Bei der letzten „Tour des Lebens“ im August reiste Janssen mit zwölf Auszubildenden und zwei Führern an den Polarkreis. 140 Kilometer auf Skiern wollten sie zurücklegen, nachts ein Zeltlager auf blankem Eis errichten, täglich zehn bis 14 Stunden lang auf den Beinen gegen den Wind und die Kälte ankämpfen und möglichst den hungrigen Eisbären ausweichen.

Upstalsboomer waren komplett auf sich gestellt

Sechs Monate Vorbereitung gingen voraus, doch gegen wilde Tiere hilft keine austrainierte Beinmuskulatur. „These crazy Germans“, sagte ein Ortsansässiger zu der ungewöhnlichen Truppe, als sie aufbrachen. Sie hatten keine Sherpas, kein Netz und doppelten Boden, die Upstalsboomer waren komplett auf sich allein gestellt.

Drei Tage wanderten sie sogar im „Whiteout“, dabei erscheint alles Weiß-Grau, niemand erkannte mehr, wo oben oder unten war. Doch am Ende schafften sie es alle auf den Newtontoppen, den höchsten Berg Spitzbergens.

Der Trip sei ein absoluter „Tritt in den Hintern“ gewesen, sagte ein Auszubildender bei der Rückkehr. „Aber jetzt wissen wir: Du hast es drauf, wenn du nur willst.“

Als Nächstes eröffnen die Hotels der Stille

Wenn er sehe, was es mit den Menschen macht, wenn sie sich selbst spüren und sich wieder aufrichten, das sei sein höchster Lohn, sagt Janssen. In Anlehnung an John Streleckys Buch „Das Café am Rande der Welt“ möchte der 45-Jährige als Nächstes die Kette „Hotels am Rande der Welt“ eröffnen.

Orte der Stille, wie Klöster, nur ohne den religiösen Rahmen. Die Sehnsucht nach Sinn werde größer und größer unter den Menschen, glaubt Janssen, und in diesen Hotels werde es um „geistige Mündigkeit statt Konsumbedarf“ gehen.

Also minimaler Luxus, keine große Restaurant-Karte, es gibt mittags ein Essen, und das wird gegessen. Dafür geführte Meditationen viermal täglich.

Ein Prototyp mit 34 Zimmern eröffnet Anfang nächsten Jahres in Wremen mitten auf dem Deich. „Ich sehe es als eine Art Gewächshaus, eine Vorlage für ein großes Netz“, sagt Janssen, dessen Lebenssinn darin liegt, seinen Enkelkindern möglichst viele Geschichten erzählen zu können. Ein paar hat er schon auf Lager.

Dieser Text ist zuerst auf abendblatt.de erschienen.