Berlin. Der Nachbar hat einen guten Tipp, die eigene Mama bittet, sich warm anzuziehen. Ungefragte Meinungen sind bei Mütter sehr unbeliebt.

Neulich in einem Treppenhaus. Ich stehe oben auf der Schwelle und habe zwei Kinderrucksäcke und meine Reisetasche auf den Schultern. Meine zwei Kinder warten geduldig auf den Stufen. Ich will gerade heruntergehen, da kommt ein Typ (mutmaßlich ein Besucher/Hausmeister) die Treppen hoch und erklärt mir, dass hier zu viel gelüftet würde.

Die Fenster im Treppenhaus seien ständig offen, das sei doch klar, da könnte das Mauerwerk ja feucht werden. Also von Schimmel sei hier die Rede. Das Fremdwort „Bauphysik“ fiel und ließ den Verdacht zu, dass der Typ es mindestens in einer Naturwissenschaft bis zur Promotion geschafft hat (vielleicht auch nicht).

Ich jedenfalls starrte den Typen nur mit offenen Mund an, weil ich es nicht fassen konnte. Aus so vielen Gründen, aber allen voran, weil mir völlig unklar war, wie der gemeine Mensch es fertig bringen kann, vor einem anderen Menschen den Chef-Erklärer zu spielen, während dieser vollgepackt wie ein Weihnachtsbaum zwei Kinder vor sich hertreibend, den Hausschlüssel noch in der Hand gerade und unverkennbar auf dem Sprung ist.

Mal ganz abgesehen davon, dass es dem Zuhören und der Galanterie zuträglich gewesen wäre, hätte er mir die Taschen abgenommen und die Treppe heruntergetragen. Aber geschenkt. Der arme Typ in seiner dümmlichen Selbstgerechtigkeit, er kann nicht raus aus seinem Tunnel – und so viele meiner Mitmenschen tun es mit ihm gleich.

Kein Ton des Widerstandes beim Anruf der Mutter

Da gehe ich zum Beispiel neulich mit meiner Tochter über eine vierspurige Straße, die Ampel schaltet auf Rot, wir beeilen uns, schnell herüberzukommen. Für die alte Dame mit dem Hackenporsche aber nicht schnell genug.

„Schämen sollten Sie sich. Und das mit einem kleinen Kind“, ruft sie mir hinterher. Ein anderes Mal weinte meine Tochter in einem Zug. Wir waren unterwegs in die Schweiz. „Ja, können Sie denn mal Ihr Kind beruhigen. Sie sind ja schließlich die Mutter“, raunte er.

Wieder stand ich da mit leicht geöffnetem Mund und wunderte mich. Die anderen Fahrgäste hielten natürlich den Mund.

Und ich bringe umgekehrt keinen Ton des Widerstandes raus, wenn meine Mutter anruft. Ob ich schon gegessen habe und lange Unterhosen an. Ich bejahe stets, und natürlich ist es meistens gelogen. Und mit dem Faktor Müdigkeit rede ich mir meine mangelnde Konfrontationsfähigkeit dann zurecht.

Ich sage mir, dass der Expeditionscharakter im Leben unter allen Umständen erhalten bleiben muss, dass wir unvoreingenommene, freundliche Menschen sein sollen, gerade vor unseren Kindern, aber andererseits: Was haben meine Kinder von einer Mutter, die in der Öffentlichkeit einknickt wie ein Wiesenblümchen, weil der Typ, der Mitreisende oder die alte Dame meint, mich öffentlich bevormunden zu müssen?

Eltern sollten Äußerungen von anderen für Kinder kategorisieren

Warum sollen denn die Kinder gießkannenartig den Schwachsinn der Welt auf sich ausgeschüttet bekommen? Ungefragte Meinungen als Fakten akzeptieren, von Menschen, die sie nicht kennen?

Besteht nicht eigentlich die Herausforderung in der modernen Erziehung, den ganzen Shit, den Leute in ihrer Selbstgerechtigkeit behaupten, für Kinder sinnvoll zu kategorisieren – notfalls auch komplett zu ignorieren?

Ich stand also neulich im Treppenhaus und der Typ redete einfach weiter, während ich also da stand mit meinen schweren Taschen. Er redete und redete und ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Entschuldige“, sagte ich dann endlich, „aber wir müssen das hier leider vertagen, weil unschwer zu erkennen ist, dass wir los müssen. Aber eben nicht von jedem.“

Und so rannten wir zu dritt einfach die Treppe runter, und als wir unten waren, sagte meine vierjährige Tochter einfach so: „Gut gemacht, Mama“.