Hamburg. Ex-Redakteur Claas Relotius gibt Journalistenpreise zurück – auch Interview mit der letzten Überlebenden der „Weißen Rose“ gefälscht.

Der Fall Claas Relotius schlägt weltweit Wellen. Dass beim „Spiegel“ bis vor Kurzem ein Redakteur beschäftigt war, der seine Geschichten ganz oder in Teilen erfand, wurde auch von „CNN“, „BBC“ und „Guardian“ berichtet. Der globale Reputationsverlust des Nachrichtenmagazins dürfte immens sein.

Der „Spiegel“ selbst hatte den Fall am Mittwoch publik gemacht. Das wird durchaus gelobt: Der transparente Umgang mit dem Betrug sei absolut richtig und notwendig, da die Glaubwürdigkeit des Magazins „mehr als angekratzt“ sei, sagte etwa Medienwissenschaftler Horst Röper am Donnerstag im Radiosender HR-Info.

Publikmachung zieht Kritik auf sich

Die Form der Publikmachung zieht gleichzeitig Kritik auf sich. Zunächst hatte der Redakteur Ullrich Fichtner am Mittwoch auf „Spiegel Online“ „eine Rekonstruktion in eigener Sache“ veröffentlicht.

Das medienjournalistische Portal „Uebermedien“ kritisierte das „zweifelhafte Pathos“, mit dem er das tat. In das gleiche Horn stieß Ijoma Mangold, Literaturchef der „Zeit“, der Fichtner via Twitter attestierte, seine Rekonstruktion „in genau dem Ton“ geschrieben zu haben, „den Relotius so hemmungslos bedient hat“.

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Kritik am „Pathos“ der Aufklärungsstory

Fichtners ausführlicher Text beginnt mit dem Satz: „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah.“ Diesen hohen Ton schätzt man im Gesellschaftsressort des „Spiegel“, das Fichtner ein paar Jahre lang geleitet hat.

Der Stil kommt traditionell bei den Juroren gut an, die in Deutschland über die Vergabe von Journalistenpreisen entscheiden. Das „Spiegel“-Gesellschaftsressort hat diese Auszeichnungen dutzendweise eingesackt.

Wer sich hier bewährt, kann es ganz nach oben schaffen. Fichtner etwa wird am 1. Januar einer von drei neuen „Spiegel“-Chefredakteuren.

Gesellschaftsressort hausintern auch in der Kritik

Andererseits sind die Redakteure des Gesellschaftsressorts nicht überall im Hause sonderlich beliebt. Mancher Kollege wirft ihnen hinter vorgehaltener Hand vor, ihnen sei eine originelle Formulierung wichtiger als die korrekte Schilderung der eigenen Recherchen.

Es ist schwer zu beurteilen, was von solchen Vorwürfen zu halten ist. Sicher dürfte es auch Neid auf die mit Preisen überhäuften Edelfedern geben.

Das Gesellschaftsressort hat innerhalb des „Spiegel“-Kontrollsystems etwas andere Bedingungen als andere: Es arbeitet im Wesentlichen mit einem Dokumentar zusammen, der wegen der Struktur des Ressorts auf kein bestimmtes Wissensgebiet spezialisiert ist – anders als etwa das Wirtschaftsressort, für das auf Auto- oder Chemie-Industrie spezialisierte Dokumentare tätig sind.

„Spiegel“ behält sich rechtliche Schritte vor

Auf Anfrage teilte der „Spiegel“ mit, dass er sich rechtliche Schritte gegen den früheren Star-Schreiber vorbehalte. „Dasselbe gilt für mögliche Schadenersatzansprüche.“

Man prüfe nun den Sachverhalt. Eine auch mit externen Experten besetzte Kommission soll Versäumnisse beim Nachrichtenmagazin untersuchen.

Vielleicht muss man dabei nicht nur auf das Gesellschaftsressort schauen: 2011 wurde der Redakteur René Pfister mit dem Henri-Nannen-Preis in der Kategorie „Reportage“ für ein Porträt von Horst Seehofer ausgezeichnet. Darin schildert er recht detailliert die Modelleisenbahn des Politikers.

Nachdem Pfister bei der Verleihung eingeräumt hatte, er habe die Bahn nie mit eigenen Augen gesehen, erkannte ihm die Jury den Preis wieder ab. Der „Spiegel“ reagierte darauf mit „Unverständnis“.

Wo beginnt unsauberer Journalismus?

Es darf nun darüber diskutiert werden, wo unsaubere journalistische Arbeit beginnt. Schon bei Rekonstruktionen, die als solche nicht zu erkennen sind, auch wenn der geschilderte Sachverhalt – wie im Fall Pfister – zutreffend ist? Vor dem Hintergrund der Stimmungsmache gegen Medien als angebliche „Lügenpresse“ kann die Aufklärung gar nicht gründlich genug sein.

Der künftige „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann und der noch amtierende stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit definierten in einem sachlichen zweiten Stück zum Fall Relotius am Donnerstag die Grundhaltung, in der die Aufarbeitung der Geschehnisse erfolgen müsse. Der Schlüsselbegriff ihres Textes lautet „Demut“.

Einige Preise ist der ertappte Betrüger bereits los: Der Peter Scholl-Latour Preis von Plan International wurde Relotius sofort aberkannt. CNN zog die Auszeichnungen für „CNN Journalist des Jahres“ und „Print“ von 2014 zurück.

Seine vier Reporterpreise gab Relotius selbst zurück, wie der Journalist Cord Schnibben vom Reporter-Forum sagte. Relotius sei der Aberkennung zuvorgekommen.

Geschichten in verschiedenen Medien veröffentlicht

In welchen seiner Texte er gelogen hat, wird nun untersucht. Relotius hat für viele Zeitungen geschrieben. Für „Zeit Online“ und „Zeit Wissen“ habe er von 2010 bis 2012 als freier Autor sechs Beiträge geschrieben, heißt es etwa im „Glashaus-Blog“ der „Zeit“.

Die Überprüfung der Geschichten laufe. Bei einem Artikel über eine Familie, die zwei Kinder mit Trisomie 21 hat, fragt sich die Redaktion jetzt, ob es die Familie überhaupt gibt: Man finde sie nicht.

Enttäuschung bei Kollegen

„Zur Enttäuschung kommt Wut dazu“, schreibt „Spiegel“-Korrespondent Hasnain Kazim bei Twitter über die Tatsache, dass Relotius auch beim Interview mit der letzten Überlebenden der NS-Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ manipuliert, Antworten erfunden, über Details des Besuchs gelogen hat.

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„Da hat man die Chance, eine Person von hist. Bedeutung zu treffen, und dann erfindet man Mist dazu?“ Ja. Das hat Relotius getan. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar.