Sie ist eine Ikone des westlichen Kommerz – Walt Disneys Micky Maus feiert Sonntag 90. Geburtstag. Manche halten sie für den Teufel.

Man stelle sich vor, es gäbe eine Zeitschrift mit dem Titel „Goethe-Magazin“, und in jeder Ausgabe wären fast ausschließlich Gedichte oder Dramen von Friedrich Schiller zu lesen. Absurd, klar.

Das berühmteste Comic-Blatt der Welt aber erlaubt sich eine solche „Schere“ zwischen Titel und Inhalt. Und zwar seit vielen Jahrzehnten. Der große Star des „Micky-Maus-Magazins“ ist nämlich nicht der kleine Nager, nach dem das Heft heißt, sondern die Ente Donald Duck. Ein Missverhältnis, das sich schon bald, nachdem der Schwimmvogel ins Disney-Universum eingeflogen war, gebildet hatte.

So spießig, dass sie einem schon leidtun kann

Aber so ist es nun mal, Micky Maus wird am 18. November 90 Jahre alt, Donald bringt es erst auf 84 Jahre, und die Maus genießt das Recht des älteren Heft-Namens. Sie kann nichts dafür, dass sie als Medienfigur in einer dramaturgischen Sackgasse steckt, sie macht schließlich alles richtig, ihr gelingt, was sie anpackt, ist klug, auch im hohen Alter noch so was wie der ideale Schwiegersohn, der auch noch Klavier spielen kann.

Aber das ist es eben gerade. Mit anderen Worten nämlich: Ihr Charakter ist so langweilig gut, spießig, dass sie einem schon leidtun kann.

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Für Micky immer weniger Platz in Entenhausen

Donald Duck, der größenwahnsinnige Pechvogel dagegen hat uns immer begeistert, genial in Szene gesetzt vom Zeichner Carl Barks, weshalb die nominellen Micky-Maus-Hefte voll sind mit Donalds Abenteuern, die auch Gegenstand ausufernder Sekundärliteratur sind, samt unzähliger psychoanalytischer Analysen, Verschwörungstheorien und kultureller Ereignisse wie der Duckomenta.

Nicht so für Micky, für ihn blieb in den Heften immer weniger Platz. Und auch wenn die Universen der Mäuse und der Enten getrennt sind, ist die Hierarchie für alle Beteiligten stets präsent, auch für die Maus. Sie alle wohnen in Entenhausen, englisch: Duckburg. Wenn wir dann schon die Geschichten mit der Maus lesen mussten, weil das Heft ansonsten durch war, dann gehörten die Herzen immer Mickys Kumpel, dem Hund Goofy, weil der so schön doof war.

Saudischer Fernsehsender erkläre Mäuse zu „Soldaten des Teufels“

Minnie und Micky Maus feiern den 90. Geburtstag der Maus in München.
Minnie und Micky Maus feiern den 90. Geburtstag der Maus in München. © dpa | Volker Dornberger

Immerhin: Micky lebt. Und das ist nicht selbstverständlich, auch abgesehen von seinem fortgeschrittenen Alter oder dem Dasein im Schatten der Ente. Auf ihm liegt eine Fatwa, ausgesprochen vor zehn Jahren.

Der saudische Fernsehprediger Mohammed al-Munadschid hatte 2008 einer arabischen Nachrichtenagentur erklärt, Mäuse seien „Soldaten des Teufels“, die vernichtet gehörten. Er forderte alle Eltern auf, ihren Kindern jeden Kontakt mit Micky Maus zu untersagen (übrigens auch mit dem Artgenossen Jerry, der dem Kater Tom das Leben stets so brillant schwer macht). Filme und Hefte seien tabu.

Ein Kinderkanal des palästinensischen Fernsehens soll damals sogar einen eigens in Szene gesetzten Doppelgänger Mickys öffentlich erschlagen haben lassen.

Micky Maus ist ein Sinnbild des westlichen Kapitalismus

Die islamistische Bedrohung für Entenhausen zielt natürlich nicht auf eine unerwünschte Tierart (im Koran gibt es übrigens keine einschlägige Sure, die eine derartige Mausophobie rechtfertigen könnte). Die Fatwa zeigt vielmehr: Micky Maus steht trotz allem für den Erfolg des westlichen Kapitalismus, für die weltweite Macht der großen Medienkonzerne.

Als Ikone ist sie ja durchaus beliebt, als Telefonhörer, auf T-Shirts, Klodeckeln, Tassen, als Mercedes-Stern-Ersatz, Luftballon. Niedlich und possierlich in jeder Form, immer lächelnd. Wenn er uns nur keine alten Schoten aus dem Leben erzählt, auch nicht als Assistenz-Detektiv von Kommissar Hunter (Happy End absehbar, alle Schurken dingfest), dann mögen wir ihn ja.

Als prominentesten Vertreter aus dem Pantheon der Comic-Götter. Auch als Symbol für den Aufstieg vom komplett unterbezahlten Zeitungsboten Walt Disney zum Medienmultimillionär, für den American Way of Life. Dabei wurde er selbst dessen Opfer.

Ein Kind der letzten großen Wirtschaftskrise

Walt Disney, Erfinder von Micky Maus, mit einer Ausgabe des der Maus gewidmeten Magazins. 
Walt Disney, Erfinder von Micky Maus, mit einer Ausgabe des der Maus gewidmeten Magazins.  © © Disney Enterprises, Inc. | © Disney Enterprises, Inc.

Am 18. November 1928 machte Micky Maus in seinem ersten Kurzfilm noch eine vielversprechende Figur: „Steamboat Willi“. Auf einem kleinen Flussdampfer treibt Micky allerhand Schabernack und legt sich mit einem fetten, unrasierten Kater an, jenem Phänotyp, den er, der Detektiv, später als Gangster Kater Karlo immer wieder verfolgen wird. Auch in den folgenden Filmen spielt Micky einen quirligen, gewitzten Burschen, der auch über die Stränge schlägt, der Schadenfreude kennt, auch dosierte Grausamkeiten.

So wurden Mickys Filme zum Knüller. Doch wegen seiner Popularität „wurde Micky schon bald zu einem nationalen Symbol, von dem immer mehr US-Bürger auch eine gewisse Vorbildfunktion erwarteten“, wie man beim Ehapa-Verlag, der die Disney-Storys für Europa druckt und vertreibt, einmal resümierte. Fast entschuldigend für den Mentalitätswandel des Mäusestars, ja für die frühen dramaturgischen Fehlentscheidungen. Trat nun aber Micky „wie in seinen frühen anarchischen Tagen auf, hagelte es Protestbriefe.“

Micky wurde in die Zeit der letzten großen Wirtschaftskrise 1929/30 hineingeboren, und in jenen Zeiten auch gesellschaftlicher Verwerfungen sahen manche eben auch das Wertesystem der Amerikaner in Gefahr. Die Maus musste es retten.

Ein tadelloses Leben

Die kurze Hose, Sinnbild offenbar für jene anarchistischen Tage, war nicht mehr salonfähig, Micky bekam gebügelte Hosen verpasst, auch ein weißes Hemd, und führte fortan ein tadelloses Leben.

Für Späße war nun an seiner Statt der tollpatschige Freund Goofy zuständig; für gelebte Genussfreude seine Freundin Minnie, für – wohldosiertes – Chaos und Anarchie der Hund Pluto und die Neffen Mack und Muck.

Inzwischen hat Micky wieder kurze Hosen an, um an die wilden Zeiten anzuknüpfen. Doch das Entenimperium, Donald, Dagobert – und auch Daisy übrigens –, die uns untenherum immer komplett unbekleidet begegnen, werden darüber nur müde lächeln können. Entenhausen bleibt Entenhausen.

Besondere Biografie zum Geburtstag

Walt Disney’s Mickey Mouse: Die ultimative Chronik, erschienen bei Taschen. 
Walt Disney’s Mickey Mouse: Die ultimative Chronik, erschienen bei Taschen.  © © Disney Enterprises, Inc. | © Disney Enterprises, Inc.

Die Bilder in diesem Artikel stammen aus einer umfangreichen Biografie der berühmten Maus, die der Taschen Verlag in Zusammenarbeit mit Disney vorlegt. Über 1200 Abbildungen, darunter Werkfotos, Animationszeichnungen, Storyboards und seltene Entwürfe, zeichnen Mickys internationalen Siegeszug nach und liefern detaillierte Informationen über alle rund 122 Zeichentrickfilme. Walt Disney’s Mickey Mouse: Die ultimative Chronik. Von David Ger­stein, J.B. Kaufman und Daniel Ko­thenschulte. Taschen,
496 Seiten,
150 Euro.