Gelsenkirchen/Essen. Ermittler haben eine Gelsenkirchener Kinderklinik im Fokus. Ein Film wirft die Frage auf: Wird den kleinen Patienten Gewalt angetan?

Wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener ermittelt die Staatsanwaltschaft Essen gegen eine Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen. Ein Arzt hatte Anzeige erstattet, weil im Kinofilm „Elternschule“ mehrere Szenen darauf hindeuten, dass Kinder in der Klinik psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. „Es geht um die Handlungen, die in dem Film gezeigt werden“, bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Der zweistündige Kinofilm dokumentiert die Behandlung von psychosomatisch erkrankten Kindern mit massiven Ess- und Schlafstörungen. Seit er im Oktober herausgekommen ist, wird über die Methoden der Therapeuten diskutiert. Die Klinik hingegen weist die Vorwürfe zurück, es gebe keine Gewalt. Die klinischen Methoden entsprächen dem aktuellen Forschungsstand und den Standards der medizinischen Wissenschaft.

Online-Petition fordert Absetzung

Radikal? Zu sehen ist im Kino, wie ein weinendes Kleinkind im hohen Gitterbett die Nacht allein in einem dunklen Raum verbringt. Wie eine Erzieherin ein wild strampelndes zu füttern versucht. „Schwitzkasten!“, empören sich nun viele. Aber auch von „Folter“ ist die Rede, von Misshandlung, Traumatisierung.

Das Foto zeigt eine Szene aus der viel diskutierten Filmdoku „Elternschule“.
Das Foto zeigt eine Szene aus der viel diskutierten Filmdoku „Elternschule“. © dpa | ---

Der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster spricht von „unwürdiger Behandlung“ und „Unterwerfung“, der Film glorifiziere Gewalt. So viel Wut bricht sich Bahn im Netz, dass die Film-Firma ihre Facebook-Seite sperrte. In einer Online-Petition fordern fast 20.000 Menschen, die Dokumentation abzusetzen.

Auch der Kinderschutzbund gibt sich entsetzt. „Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung“, sagt Präsident Heinz Hilgers. Aus seiner Sicht wäre es an den Ärztekammern zu prüfen, „ob es mit der ärztlichen Ethik vereinbar ist, dass Kinder als kleine Monster dargestellt werden und Eltern als unfähig. Die Kinder werden das ihr Leben lang nicht mehr los.“

„Kinder sind keine Monster“, wehrt sich Dr. Kurt-Andre Lion, Leitender Arzt der betroffenen Klinik-Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik, Allergologie und Pneumologie. „Aber wenn ihre Grenzen nicht sicher sind, dann werden sie im Laufe der Zeit ihre Grenzenlosigkeit als Normalität erleben und im Alltag ausleben.“ Von Zwangsfütterung könne keine Rede sein, „wir brechen keine Seelen“. Die harsche Kritik empfindet Lion als „entwürdigend, für das Team, die Klinik und notleidenden Familien“.

Filmemacher begleiteten Kinder und Eltern ein Jahr lang

Es geht, wie die Kinder- und Jugendpsychologin Prof. Silvia Schneider von der Ruhr-Uni Bochum sagt, „um sehr kranke Kinder“. Um Extrembeispiele, die Unterstützung brauchen, um Eltern voller Verzweiflung, um Familien, die keinen anderen Ausweg mehr wissen, nachdem sie schon viele probiert haben.

Laura schreit 14 Stunden am Tag. Lucy schläft nicht durch. Joshua ist immer wütend. Mohammed kratzt sich blutig. Felix erbricht seine Milch. Zahra isst gar nichts mehr. „Kinder im chronischen Stress“, schreiben die Regisseure über ihren Film „Elternschule“ und machen damit selbst deutlich: Hier geht es nicht um das „normal“ aufmüpfige Kind.

Diese Kinder kommen zur Therapie ins Bergmannsheil in Gelsenkirchen, sie sollen schlafen lernen, essen, sich beruhigen. Die Filmemacher Ralph Bücheler und Jörg Adolph haben ihnen für „Elternschule“ dabei zugesehen, ein Jahr lang, sie sagen: „Wir erleben das Auf und Ab einer radikalen ganzheitlichen Behandlung.“

„Wir brechen keine Seelen“

Viele Eltern lernten erst in der Therapie, wie viel die Probleme des Kindes auch mit ihnen selbst zu tun haben. Man biete, sagt Lion, in der Klinik einen Rahmen, „in dem das Kind sich autonom und sicher entwickeln kann“. Professorin Schneider, die in Bochum zur psychischen Gesundheit forscht, sagt: „Die Therapeuten setzen durch, was Eltern nicht mehr können.“

Sie gibt aber auch zu: „Es ist hart, wenn man die Bilder sieht, aber manchmal hilft Liebe allein leider nicht.“ Untersuchungen zeigten, dass die Kinder durch die Therapie nach anerkannten wissenschaftlichen Leitlinien keinesfalls „gebrochen“ würden, vielmehr die Beziehung zu den Eltern entlastet werde.

Natürlich, das sagt auch Schneider, seien die Methoden nicht übertragbar auf den Alltag einer normalen Familie. Das aber suggerieren die Filmemacher selbst, in dem sie für ihre Dokumentation mit der Frage werben: Wie gehen wir richtig mit unseren Kindern um? Eltern fänden oft erst in Gelsenkirchen heraus, was gute Erziehung sei. Möglich, dass die Debatte auch deshalb entbrannte. Der Filmtitel „Elternschule“ sei etwas „irreführend“, sagt auch Silvia Schneider.

Dialog zwischen Eltern und Einrichtungen

Andererseits: Eine Diskussion über Erziehung hat sich etwa der Verband Bildung und Erziehung (VBE) lange gewünscht. „Wir brauchen einen Dialog zwischen Eltern und Einrichtungen“, sagt Doris Feldmann, im Landesvorstand zuständig für frühkindliche Bildung.

Zunehmend fielen in den Schulen Kinder auf, die zuhause keine Grenzen gesetzt bekämen. Mit liebevoller Strenge zu erziehen, fordert auch Regine Schwarzhoff vom NRW-Elternverband: „Einem Kind die Erziehung zu verweigern, ist verantwortungslos. Es wird seiner Chancen beraubt.“

Vorstellungen sind ausverkauft

Diskutiert wird also, auch in und vor den Kinos, die die „Elternschule“ zeigen. Vorstellungen sind restlos ausverkauft, vor allem Erzieher, Therapeuten, Lehrer gehen hin. Und sind zwiespältig: „Das Konzept ist richtig“, urteilt in Gelsenkirchen eine Erzieherin.

Eine Tagesmutter aus Essen sagt, sie werde den Film Eltern empfehlen. Ein Therapeut indes findet „das Vorgehen furchtbar bis unmenschlich“. Deutschlands oberster Kinderschützer Heinz Hilgers hält es mit dem Philosophen Henry David Thoreau. Der sagte schon im 19. Jahrhundert: „Kinder brauchen Liebe – besonders wenn sie sie nicht verdienen.“ (mit dpa)