Berlin. Deutschland hofft nach drei bitteren Jahren beim ESC-Finale auf Besserung – und auf eine Ballade. Die Favoritin ist dagegen eher laut.

  • Am Samstag steigt das ESC-Finale in Lissabon
  • Nach drei Jahren auf den untersten Plätzen hofft Deutschland auf Besserung – und auf eine Ballade von Michael Schulte
  • Die Favoritin macht allerdings alles anders als der deutsche Starter

Einmal hat er sie schon alle zum Staunen gebracht. Als Michael Schulte bei seiner ersten Probe für das Finale des Eurovision Song Contests (ESC) zur Gitarre griff, ließ der Deutsche „Fly on the Wings of Love“ ertönen, den Siegersong der Olsen Brothers aus dem Jahr 2000 – gesungen in astreinem Dänisch. Fans und Journalisten waren entzückt. Eine positive Überraschung aus Deutschland beim ESC? Die Möglichkeit hatte wohl irgendwie keiner mehr auf dem Zettel.

Wenn Europa am Samstag (12. Mai, 20.15 Uhr, ARD) in Lissabon um die Wette singt, kann es aus deutscher Sicht nur besser werden. Die Bilanz der letzten drei Jahre: nichtssagende Popsongs, maximal mittelgut gesungen, zwei letzte Plätze, ein vorletzter Platz. Eine nationale „ESC-Krise“ wurde ausgerufen. Und mit viel Pathos und Herzeleid soll sie nun zu Ende gehen.

Denn Michael Schulte, der rund um Flensburg aufwuchs, dort dänische Schulen besuchte, später mit Coversongs bei YouTube und als Kandidat einer Castingshow im Fernsehen „in die Musiksache reingeschlittert“ ist, beklagt in seinem Song „You Let Me Walk Alone“ den Tod seines Vaters. Der schmachtende Singer-Songwriter-Stil und sein roter Lockenkopf brachten dem 28-Jährigen aus Buxtehude schon Vergleiche mit Superstar Ed Sheeran ein. „Emotional und authentisch“ will er auftreten, ohne große Bühnen-Effekte. Seit vergangenen Samstag ist er in Portugal – und auch beim hundertsten Interview noch überaus nett und freundlich.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Facebook, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Song von Michael Schulte fehlt an entscheidenden Stellen die Power

Prognose: Sollten sich am Finaltag ausreichend Schwiegermütter vor dem Fernseher einfinden, reicht es vielleicht für sein großes Ziel: die Top Ten. Für die oberen Plätze fehlen seinem Lied an den entscheidenden Stellen allerdings die Power und ihm selbst einige Ecken und Kanten. Die findet man bei Schulte seltener als in einem Körbchen voller Hundewelpen.

Schrill, bunt, politisch: Netta Barzilai und dem israelischen Beitrag „Toy” werden beim ESC-Finale am Samstag in Lissabon beste Chancen eingeräumt.
Schrill, bunt, politisch: Netta Barzilai und dem israelischen Beitrag „Toy” werden beim ESC-Finale am Samstag in Lissabon beste Chancen eingeräumt. © REUTERS | RAFAEL MARCHANTE

Wesentlich schriller und bunter kommt da schon die turmhohe Favoritin daher: Netta Barzilai (25) aus Israel, gesanglich irgendwo zwischen Adele und dem 90er-Stotterkünstler Scatman John, optisch ein wenig Beth Ditto und Cindy aus Marzahn, wird von Buchmachern und Experten seit Wochen in den Himmel gelobt. Ihr Song „Toy“ geht nicht nur ins Ohr, sondern trägt auch noch die aktuelle „#metoo“-Debatte nach Portugal.

„I’m not your toy, you stupid boy“ („Ich bin nicht dein Spielzeug, du dummer Junge“) singt Netta im Refrain – und ergänzte vor ihrer Abreise nach Lissabon: „Seid stolz und nehmt euch selbst so an, wie ihr ausseht und denkt.“ Eine Botschaft, für die sie in diesen Tagen nicht nur in Lissabon gefeiert wird. Auf YouTube wurde „Toy“, ein Mix aus Korea-Pop, Rap und Elektro, bereits mehr als 19 Millionen Mal geklickt. Zur Einordnung: Michael Schultes „You Let Me Walk Alone“ kommt auf knapp 1,7 Millionen Klicks.

Salvador Sobral ist nach Herztransplantation zurück

Politisch wird es auch an anderer Stelle: „Mercy“ vom französischen Duo Madame Monsieur erzählt von einem Flüchtlingsbaby auf dem Mittelmeer. Die Maltesin Christabelle fordert mit „Taboo“ mehr Toleranz für psychisch Kranke. Und irgendwie auch politisch ist der Auftritt von Julia Samoylova. Die Sängerin war 2017 wegen des russischen Boykotts des ESC-Finals in Kiew vertröstet worden – und ist nun wieder als 43. Teilnehmerin dabei.

Den weiteren Mitfavoriten geht es eher um Party als um Politik. Wie beim tschechischen Boygroup-Gesicht Mikolas Josef und seinem Elektro-Popsong „Lie to Me“. Oder Estland, das die Sopranistin Elina Nechayeva und mit „La forza“ eine stimmgewaltige Pop-Oper ins Rennen schickt. Ja, richtig: Auch für Freunde von Glitzerkleid und Nebelmaschine ist gesorgt.

Der rührendste Auftritt in der malerisch am Tejo gelegenen Altrice-Arena wird allerdings außer Konkurrenz laufen: Salvador Sobral (28), der den ESC mit seiner Jazzballade „Amar pelos dois“ zum ersten Mal nach Portugal holte, wird auf die Bühne zurückkehren. Nach seinem Sieg in Kiew streikte sein erkranktes Herz, monatelang wartete er auf ein Spenderorgan. Erst seit April spielt er wieder Konzerte, am Samstag tritt er an der Seite des brasilianischen Altmeisters Caetano Veloso (75) auf.

Das wiederum ist dann auch eine gute Nachricht für alle deutschen Fans: Europas Schwiegermütter dürften danach so richtig in Stimmung sein.