Berlin. Seine Forschung wurde mehrfach ausgezeichnet. Jetzt soll Gary Lewin einen Negativpreis bekommen – wegen seiner Versuche an Nacktmullen.

Das Erstickungsexperiment an den Nacktmullen dauert viel länger als erwartet. Die Forscher setzen mehrere der haarlosen, faltigen Nager in ein Plastikbehältnis und führen Stickstoff ein. Die Tiere verlieren das Bewusstsein, der Puls verlangsamt sich, sie kühlen ab, es herrscht Totenstille.

Doch als die Versuchstiere wieder Luft erhalten, erleben die Beobachter in Chicago eine kleine Sensation: „Die Mulle wachten auf, streckten sich ein bisschen und gingen ihrer Wege“, sagt Forschungsleiter Gary Lewin. „Es war, als hätten sie eine Art Winterschlaf gehalten.“

Der Mull starb erst nach 30 Minuten

Die eingesetzten Labormäuse waren im Vergleichstest schon nach 45 Sekunden tot. Der Mull dagegen kommt laut den Ergebnissen 18 Minuten ohne Sauerstoff aus. Erst nach 24 Minuten erlitten die Tiere schweren Schaden, nach 30 starben sie. Danach wurden ihre Organe untersucht.

Ziel der Experimente mit den Nagern in Berlin und Chicago sei es, neue Erkenntnisse für den Schutz menschlicher Herzen und Hirne zu gewinnen, so Lewin. Die Genehmigung für das Sauerstoff-Experiment wurde in den USA erteilt.

Mit 2,5 Millionen Euro dotierter Wissenschaftsfonds

Für Forschungsprojekte mit den in Ostafrika beheimateten Nagern hatte der Wissenschaftler des Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) vor sechs Jahren den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Wissenschaftsfonds des Europäischen Forschungsrates ERC erhalten.

Mit dem Geld sei es auch gelungen, eine eigene Nacktmull-Zucht zu betreiben. Die Ergebnisse wurden im Fachblatt „Science“ veröffentlicht.

Journalisten kamen und berichteten über die sonderbaren Tiere, die sie wegen der Ähnlichkeit mit einem erschlafften männlichen Glied auch als „Penisratten“ bezeichneten. „Es gab viel Publicity, über 180 Artikel wurden veröffentlicht – alle überwiegend positiv“, erzählt der Professor für Physiologie.

Der Nacktmull ist ein populäres Versuchstier

Vergangene Woche erreichte ihn eine weniger erfreuliche Nachricht. In einer E-Mail kündigte ihm der Verein Ärzte gegen Tierversuche an, ihn am heutigen Donnerstag mit dem erstmals ausgelobten Negativpreis „Herz aus Stein“ auszeichnen zu wollen.

Mit der Vergabe wolle der Verein öffentlich machen, „dass unglaublich absurde und grausame Tierversuche durchgeführt werden“, sagt Corina Gericke vom Vorstand. Der Verein hatte fünf publizierte Fachartikel der Forscher selbst ausgewählt und auf einer „Aktions-Webseite“ über den schlimmsten Fall abstimmen lassen.

Fliegen die Flügel abgeschnitten und gestresst

Zur Auswahl standen: Eine Fakultät der Universität Jena ging der Frage nach, warum Bier die Leber von Mäusen weniger schädigt als Schnaps. Ein Institut der Uni Mainz hat Fruchtfliegen die Flügel abgeschnitten und mithilfe eines Vibrators gestresst, um Depressionen an ihnen zu erforschen.

Ebenfalls an der Universität Mainz, dem Zen­trum für Kardiologie, wurde untersucht, wie sich Fluglärm auf Mäuse auswirkt. Von den rund 3500 abgegebenen Stimmen entfiel am Ende gut die Hälfte auf das Nacktmull-Experiment.

Im Laborraum „Nacktmulle“ des MDC-Forschungskomplex flitzen fleischfarbene Nagetiere mit walrossartigem Überbiss durch Plastikröhren, um in eine der Behausungen zu gelangen. Es ist dunkel, es herrschen afrikanische Temperaturen. Das künstliche Mull-Dorf soll den unterirdischen Gängen der Heimat nachempfunden sein.

Erkenntnisse über den Tastsinn des Menschen

Neun Kolonien mit 150 Nagern umfasst die Zucht im MDC. Lewin hat eine Handvoll Wissenschaftsjournalisten in sein Labor eingeladen. Eigentlich hätte er ihnen lieber mehr von seiner neuerlichen Forschungsarbeit – Erkenntnisse über den Tastsinn des Menschen zu gewinnen – erzählt, für die er abermals gerade den millionenschweren Förderpreis des ERC erhalten hat.

Doch die Kritik der Ärzte gegen Tierversuche will er nicht auf sich sitzen lassen. Lewin forscht seit 15 Jahren an den Nagern, und er findet: „Der Nacktmull ist das ungewöhnlichste Tier von allen.“ Wegen seiner Eigenschaften sei er enorm wichtig für die Wissenschaft.

Der Nacktmull ist ein populäres Versuchstier

Und die Wissenschaft hat bereits festgestellt: Der Nacktmull lebt über drei Jahrzehnte, fast ohne zu altern, und ist quasi resistent gegen Schmerzen und Krebs. Außerdem verfügt die Spezies über ein einzigartiges Sozialverhalten: Wie Bienen lebt er in Staaten mit jeweils einer Königin, die als einziges Weibchen fruchtbar ist.

Beim Schlafen in den stickigen Kammern bilden die Nager große Haufen. „Da kann es schon mal sein, dass den unteren Tieren da die Luft ausgeht“, sagt Lewin. Das wollte er genauer wissen.

In ihrer Arbeit fanden die Forscher den Trick der Tiere heraus: Sie stellen ihren Stoffwechsel um. Fehlt ihnen der Sauerstoff, um lebenswichtige Organe wie Herz und Gehirn mittels Glukose am Laufen zu halten, nutzen sie stattdessen Fruchtzucker.

„Wir überlegen lange, bevor wir so wertvolle Tiere töten“

Die Arbeit ist laut Lewin der erste Nachweis für einen solchen Vorgang bei einem Säugetier. Er hofft, ihn auch für Menschen nutzbar zu machen – um sie etwa vor den Folgen von Sauerstoffmangel bei einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall zu bewahren.

Für diese Ergebnisse hätten sie in Berlin innerhalb von sieben Jahren vierzehn Mulle gebraucht, erklärt Forscher Lewin. „Wir überlegen lange, bevor wir solche wertvollen Tiere töten.“

Corina Gericke vom Verein Ärzte gegen Tierversuche nennt die Experimente reine „Neugierforschung“, die Strategien zur Behandlung von Schlaganfällen vorschiebt. „Manche Tiere haben nun einmal aufgrund ihrer Lebensweise besondere Fähigkeiten, die wir nicht haben und die wir auch nicht durch noch so viele Tierversuche bekommen werden.“

Lewin fühlt sich indes als Opfer einer persönlichen Diffamierungskampagne. Den „Preis“ werde er nicht annehmen, erklärte er.