London. Die britische Hauptstadt London wird von immer mehr Säure-Angriffen heimgesucht. Kriminelle urbane Straßengangs kennen keine Skrupel.

Es waren wohl die bisher schlimmsten Attacken in einer Reihe grausamer Anschläge: Der Teenager Derryck John verübte im Juli letzten Jahres innerhalb von 90 Minuten sechs Säure-Attacken. Das Tatschema war immer das gleiche: John war Beifahrer auf der Vespa seines Komplizen. Das Paar hielt vor einer roten Ampel neben einem anderen Motorradfahrer an.

Dann schüttete der damals 16-Jährige dem Opfer durch das geöffnete Visier eine ätzende Chemikalie ins Gesicht. Ihr Ziel: das Motorrad zu rauben. Dass seine Opfer dabei schwerste Verletzungen im Gesicht erlitten, nahm John billigend in Kauf.

Seit vergangene Woche ein deutscher Manager von Unbekannten mit einer ätzenden Flüssigkeit angegriffen wurde, richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Phänomen Säure-Attacke. In Deutschland ist es relativ selten.

Doch das Beispiel London zeigt, wie das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung leidet, wenn Säure-Anschläge Normalität werden. In Großbritannien, warnen Experten, haben sich solche Taten bereits zu einer Epidemie entwickelt.

Überlebende erleiden oft lebensverändernde Verletzungen

Früher wurde Säure hauptsächlich in Beziehungsverbrechen eingesetzt: Eifersüchtige oder zurückgewiesene Männer wollten sich an Frauen rächen. Heute, so Hauptkommissar Simon Laurence von der Polizei im Londoner Stadtteil Hackney, „wird Säure von urbanen Straßengangs als Waffe verwendet, wie wir es lange nicht gesehen haben. Die Mehrheit der Opfer sind männlich, und die Mehrheit der Täter ebenfalls.“ Zwei Menschen kamen bisher ums Leben.

Überlebende erleiden oft sogenannte lebensverändernde Verletzungen – sie erblinden oder sind entstellt. Nur wenige sind so mutig wie die Deutsche Vanessa Münstermann, die offen von den Folgen eines solchen Angriffs erzählt.

Im Februar 2016 lauerte ihr ein Ex-Freund auf und schüttete Münstermann unvermittelt schwefelsäurehaltigen Industriereiniger ins Gesicht. Die 29-Jährige aus Hannover verlor ein Ohr und ein Auge. Sie wird ihr Leben lang gezeichnet sein, das ist ihr bewusst: „Mein Gesicht, meine Hände und mein Dekolleté sind mit Narben übersät. Und das wird so bleiben.“

Hunderte Fälle Jahr für Jahr

Gab es 2015 in London 261 Säure-Angriffe, waren es ein Jahr später schon 454 Attacken. Für 2017 gibt es noch keine abschließenden Zahlen, aber in den Monaten bis zum April letzten Jahres hatte man schon mehr als 400 Vorfälle gezählt – das sind rund zwei pro Tag.

Die hochrangige Polizeibeamtin Rachel Kearton warnt, dass Großbritannien eine der weltweit höchsten Raten an einschlägigen Angriffen habe, „und die Zahlen scheinen anzusteigen“.

Ein Grund: Säure ist eine legale und billige Waffe. Wer ein Messer in der Öffentlichkeit mit sich führt, macht sich strafbar. Ätzende Flüssigkeiten sind dagegen nicht verboten, und wenn man sie in einer Flasche verwahrt, sieht das unschuldig genug aus. Besonders bei rivalisierenden Jugendgangs gilt Säure mittlerweile als Waffe der Wahl.

„Face Melter“, Gesichtsschmelzer, heißt das, oder auch „Folter in der Flasche“. Man will, so der Kriminologe Simon Harding, „das Opfer entstellen durch einen Akt der Dominanz und dadurch einen Rivalen ausschalten“.

Es macht den Job der Polizei nicht leichter, dass als „ätzende Substanz“ eine ganze Reihe von Chemikalien eingesetzt werden können, von Schwefelsäure bis zum Ofenreiniger.

Einige Handelsketten verkaufen Chemikalien nicht an Minderjährige

In London herrscht Angst – jeder könnte zum Opfer werden. Die Behörden haben bisher nur zögerlich reagiert. Immerhin werden ab Juni neue Richtlinien bei der Strafzumessung gelten, die erstmals ermöglichen, dass „ätzende Substanzen“ als hochgefährliche Waffen wie Messer oder Feuerwaffen eingestuft werden können.

Das wird es Richtern erlauben, höhere Strafen auszusprechen. Einige Einzelhandelsketten haben sich freiwillig verpflichtet, gefährliche Chemikalien nicht an Minderjährige zu verkaufen.

Die Polizei würde eine gesetzliche Regelung begrüßen, die das Mitführen von Säure in der Öffentlichkeit ausdrücklich unter Strafe stellt. Doch erst einmal, so ein Sprecher des Innenministeriums, werde man über ein Verkaufsverbot von ätzenden Substanzen beraten, bevor dann ein Strategiepapier vorgelegt werden soll.

Ein Gesetz wird vorerst also auf sich warten lassen. Wenigstens Vespa-Angreifer Derryck John wird keine Anschläge mehr begehen. Ein Gericht hat ihn jetzt schuldig gesprochen. Am heutigen Montag wird das Strafmaß erwartet. Er muss mit mindestens zwölf Jahren Gefängnis rechnen.