Berlin. Gefühle zeigen ist für die meisten Männer ein absolutes Tabu. Doch das sei gefährlich und könne krank machen, warnen jetzt Experten.

„Wie geht es deiner Erkältung, Papa?“ „Ganz gut, auf dem Wege der Besserung.“ Das waren die letzten Sätze, die der damals zehnjährige Jack Urwin mit seinem Vater austauschte. Danach ging der Vater ins Badezimmer und starb. Herzversagen.

Die Medikamente zur Diagnose fand die Familie nach seinem Tod in seinen Hosentaschen und versteckt im Bad. Niemals hatte sein Vater über seine Erkrankung gesprochen. Nicht einmal seine Frau, geschweige denn sein Sohn wusste Bescheid. Das war Jack Urwins Wendepunkt.

Für den heute 26-jährigen britischen Autor, der mit seinem Buch „Boys don’t cry“ einen weltweiten Bestseller landete, stand fest: „Hätte mein Vater offen über seine Sorgen und generell über Gefühle gesprochen, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.“

Männer verkraften Trennungen schlechter als Frauen

Der Erfolg von Urwins Werk und eine aktuelle Studie, die auch auf dem Weltkongress für Psychiatrie in Berlin vorgestellt wurden, legen nah, dass die Episode kein Einzelfall ist und viele Männer mit veralteten Rollenbildern hadern.

Männer verkraften Trennungen schlechter als Frauen, reagieren bei Scheidungen wesentlicher gereizter. Sie sind schneller gekränkt, was laut Forschern dazu führe, dass sie gefährdet sind, deutlich zu viel Alkohol zu trinken. Zum Muster des Mannes in der Gefühlsfalle gehöre auch, dass sie gerne anderen die Schuld geben.

So ein Verhalten führe zu einer Art emotionalem Panzer, der sie zwar vor negativen Gefühlen schützt – aber auch vor positiven. Infolgedessen verarmen die Männer emotional, was auf die Psyche schlägt. Männer sterben weltweit mehr als doppelt so oft durch Suizid wie Frauen. Wissenschaftlichen Daten zufolge erleben rund zehn Prozent der deutschen Männer im Laufe ihres Lebens einmal eine depressive Episode.

Eigenkritik ist Tabu-Thema bei Männern

Zahlen, die für Fachleute auffällig hoch sind. Auch für Christoph May (38). Für den Doktoranden aus Leipzig hat die Beschäftigung mit der seelischen Gesundheit von Männern und ihrem Stand in der Gesellschaft schon lange oberste Priorität. Vor einem Jahr gründete der Genderforscher das Institut für kritische Männerforschung.

Ziel sei es, seine Geschlechtsgenossen dazu zu bringen, sich mit ihrer Männlichkeit und dem Stereotyp vom harten, erfolgreichen Kerl zu beschäftigen. „Man stößt in der Gesellschaft auf wenige große Tabus, doch die Selbstwahrnehmung von Männern und ihre Fähigkeit zur Eigenkritik ist so eines“, sagt May.

Bei Jungs ist der Ton sachlicher

Die Probleme von Jungs beginnen bereits mit den Folgen der frühkindlichen Prägung. „Man hat herausgefunden, dass Väter und Mütter bei der Ansprache zu ihren Kindern variieren“, sagt der Wissenschaftler. Töchter würden sanfter angesprochen, bei den Söhnen sei der Ton deutlich sachlicher.

Zudem seien viele Jugendkulturen männlich dominiert – zum Beispiel die Hip-Hop- oder Graffiti-Kultur. „Deren Rituale dort verstärken das Selbstbild von Härte und Leistung sowie die Abwehrhaltung gegenüber Frauen“, sagt May.

Autor Jack Urwin pflichtet dem bei. Von seiner Kindheit an sei der Brite von Erwachsenen angehalten worden, nicht zu weinen. „Heute ist es so extrem, dass ich nicht einmal mehr weinen kann, selbst wenn mir danach ist“, berichtet er. Es sei für ihn, als habe sein Körper aufgehört, auf Trauer angemessen zu reagieren. Mittlerweile arbeite daran, seine Emotionen besser reflektieren zu können.

Depressionen und der Drang zu Aggressivität

Wissenschaftler Christoph May sagt, viele Männer könnten nicht über ihre Gefühle sprechen, weil sie gar keinen Zugang zu ihnen haben. Genau das könne im Erwachsenenalter neben den Depressionen andere schwerwiegende Folgen haben – wie den Drang zu Aggressivität.

May rät Männern dazu, mehr über ihre Gedanken zu sprechen und sich mutig in Selbstreflexion zu üben. Das könne in Männergruppen, aber auch durch die Beschäftigung mit Männlichkeit in der Wissenschaft erreicht werden.

In den USA ist das möglich: Da richtete der Soziologieprofessor der Stony-Brook-Universität in New York, Michael Kimmel, den Masterstudiengang für „Studien von Männern und Männlichkeiten“ ein. Der erste Abschlussjahrgang seiner Art weltweit steht übrigens kurz vor dem Abschluss.