Gießen/Berlin. Kristina Hänel informiert Frauen auf ihrer Internetseite über Schwangerschaftsabbrüche. Nun wird ihr verbotene Werbung vorgeworfen.

Kristina Hänel ist keine Frau, die sich in die erste Reihe drängt. Die 61-jährige Ärztin spricht ruhig, freundlich und macht hin und wieder eine Pause, bis sie sich sicher ist, was sie sagen will: „Mir geht es nicht um mich. Ich bin 61 Jahre, egal wie die Sache ausgeht, wird sie mein Leben nicht mehr entscheidend berühren“, erklärt sie. „Aber wenn ich jetzt etwas ändern kann für Frauen, dann will ich das tun.“ Die „Sache“, von der Hänel spricht, ist eine Anklage: Die Ärztin steht am Freitag vor Gericht, weil sie auf ihrer Website darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt.

Hänel ist Allgemeinärztin in Gießen. In ihrer Praxis behandelt sie laufende Nasen und schmerzende Rücken, auch EKG und Lungenfunktionstests macht sie. Und eben Schwangerschaftsabbrüche: Seit fast 30 Jahren begleitet das Thema Hänel schon. Damals habe sie gedacht, wenn es Frauen gebe, die Hilfe bräuchten, müsse ihnen jemand helfen. „Und wenn es niemand macht, dann mache ich es eben“, erklärt die Gießenerin. Ob sie darüber auch auf ihrer Website informieren darf, ist strittig.

Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist in Deutschland gesetzeswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Seit der letzten Reform 1995 sind Abbrüche in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft möglich, sofern Frauen mindestens drei Tage zuvor eine „Schwangerschaftskonfliktberatung“ gemacht haben. Trotzdem gibt es nach wie vor eine Regelung, welche die Information über den Eingriff unter Strafe stellt. Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs – „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ – verbietet unter Androhung von bis zu zwei Jahren Gefängnisstrafe das öffentliche Anbieten von Schwangerschaftsabbrüchen des „Vermögensvorteils wegen“.

„Man hat bei den Reformen des Paragrafen 218 in den 1990er-Jahren einfach nicht daran gedacht, dass auch 219a korrigiert werden muss“, sagt Monika Frommel, die Hänel vor Gericht vertritt. In der Öffentlichkeit ist die Regelung wenig bekannt. Doch Abtreibungsgegner wissen um das Gesetz – und machen davon Gebrauch. Einer der bekanntesten Abtreibungsgegner Deutschlands ist Klaus Günter Annen, Gründer der Initiative „Nie wieder“ und Betreiber der Website „babykaust.de“. Annen erstatte bis zu 27 Anzeigen gegen Ärzte pro Jahr, sagt Frommel. „Das ist sein Lebensinhalt.“

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Frauen sollen online sachliche Informationen finden

Auch Hänel ist in der Vergangenheit bereits von Annen angezeigt worden. Er und andere nutzten den Paragrafen, um Ärzte „einzuschüchtern“, erklärt Davina Höblich, Bundesvorsitzende von Pro Familia. Zur Anklage kommt es nur selten, in den meisten Fällen werden die Ermittlungen eingestellt – auch, weil die Ärzte entsprechende Passagen im Zweifel lieber freiwillig von ihren Seiten löschen. Wenn Mediziner angezeigt werden, „nehmen viele Ärzte und Praxen aus Angst vor Strafverfolgung sachliche Informationen von ihren Webseiten herunter“, erklärt Höblich.

In der Konsequenz ist für Frauen und Paare, die Informationen über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs in ihrer Nähe suchen, online nur wenig dazu zu finden. Einen bundesweiten Überblick bietet eine Seite aus Österreich – und „babykaust.de“. Die Website von Annen vergleicht Abbrüche mit dem Holocaust und listet Ärzte auf, die Abbrüche durchführen. Die Seite, auf der Mediziner an den Pranger gestellt werden sollen, ist eine der umfassendsten Ressourcen zum Thema. Das will Hänel ändern. Sie will, dass Frauen online sachliche Informationen finden.

Prozess bis zum Europäischen Gerichtshof

„Jetzt so in der Öffentlichkeit zu stehen, ist nicht einfach“, sagt die Ärztin. „Aber ich muss diese Chance jetzt ergreifen, um etwas zu ändern.“ Statt die Informationen von ihrer Website zu nehmen, will sie vor Gericht kämpfen. Sollte Hänel verurteilt werden, wollen sie und ihre Anwältin Frommel gegen die Entscheidung vorgehen. „Wir legen Revision ein, gegebenenfalls auch Verfassungsbeschwerde und ziehen – wenn es sein muss – vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, erklärt Frommel.

Sollte Kristina Hänel nicht verurteilt werden, gebe es immerhin eine klare Rechtsprechung. „Wie kann ein solches Gesetz im Jahr 2017 immer noch Geltung beanspruchen?“ Das fragen sich auch andere. Eine Petition zur Unterstützung Hänels auf change.org haben innerhalb weniger Wochen rund 96 000 Menschen unterschrieben.