Berlin. Studien geben dem individuellen Lernen gute Noten, doch für Schüler gibt es auch Nachteile. Was ist dran am alternativen Schulkonzept?

Sie klettern in Bäumen, füttern Schafe, handwerken und basteln, das alles nach eigenem Tempo, meist in kleinen Gruppen und mit flexiblem Lehrplan und ohne Noten. Der Lehrer wirkt unterstützend, statt von der Tafel aus den Schülern Wissen einzutrichtern: Alternativpädagogische Schulen sind beliebt wie nie.

Waldorfschulen etwa führen meist Wartelisten, 240 gibt es in Deutschland; 199 waren es noch 2007. Rund 1000 Schulen bundesweit unterrichten nach dem freiheitlichen Montessorikonzept.

„Eltern bringen sich mehr ein“

Gleichzeitig eröffnen immer mehr Eltern eigene alternative Schulen. „Wir erleben derzeit einen wahren Gründungsboom“, erklärt Tilmann Kern, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Freien Alternativschulen e. V. Heute betreue der Verband 96 Schulen mit rund 8000 Schülern. Im Jahr 2007 waren es erst rund 80 Schulen und gut 5000 Schüler. Und das, obwohl die rechtlichen Hürden für eine Schulgründung hoch sind.

„Eltern wollen sich heute mehr in den Schulalltag ihrer Kinder einbringen und machen sich Gedanken, was in der Schule passiert“, erklärt der Experte den Trend. Dadurch fühlten sich Eltern angesprochen, die beobachten, dass ihren Kindern die natürliche Lust am Lernen im Schulalltag abhandenkommt.

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    Mehr Raum, um Energie rauzulassen

    So wie die vierfache Mutter Silvia Lehmann (36) aus Bad Saarow in Brandenburg. „Meine älteste Tochter Hermine konnte schon mit fünf Jahren relativ flüssig lesen, schreiben und bis 20 rechnen“, erinnert sich ihre Mutter. Doch schon Wochen nach der Einschulung verlor sie die Lust, obwohl Hermine mit dem Lernstoff keine Schwierigkeiten hatte. „Es dauerte nicht lange, da konnte ich sie mit dem Matheheft durch den Flur jagen.“

    Heute besuchen Silvia Lehmanns drei Töchter eine freie Schule vor den Toren von Berlin. „Sie sind viel draußen. Die Kinder können einfach sein, wie Kinder sind“, sagt sie heute. Ohne Anforderungen geht das nicht. Ein Lernziel muss erreicht werden, aber auf individuellem Weg. Der Vorteil: Die Kinder, so Lehmann, lernten, sich selbst zu organisieren.

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      Mit den Nerven fertig

      Am deutschen Schulsystem gescheitert sieht sich auch die Familie Hausmann aus der Nähe von Köln. Sohn Martin (10) eckte bereits in der Grundschule oft an, weil er den Unterricht störte. Es kam zum Streit mit einem Lehrer, der den Jungen als verhaltensauffällig einstufte.

      Cordula Hausmann (35) war irgendwann mit Nerven und Latein am Ende und schulte Martin auf eine Montessorischule um. „Dort haben sie einen guten Umgang mit ihm gefunden. Er hat wesentlich mehr Raum zum Toben und kann seine Energie rauslassen. Und das Lernen macht ihm wieder Spaß.“ Vor allem, weil es ohne Zwang geschehe. Manchmal, sagt Silvia Lehmann, säßen die Kinder eben auch auf dem Schulsofa und kuschelten miteinander.

      Abitur muss an staatlicher Schule abgelegt werden

      Das scheint den alten Vorwurf der „Kuschelpädagogik“ zu bekräftigen. In den rebellischen 70er-Jahren stellte die alternative Pädagogik das starre Nachkriegsschulsystem infrage. Doch bald schon wurden die Schüler als „Namenstänzer“ verlacht. Der geschützte Raum bereite nicht auf die Welt draußen vor, so die häufige Kritik, in dem es ohne Leistungsdruck und Überwindung eben nicht gehe.

      Doch inzwischen gelten die alternativen Konzepte als erfolgreich: Eine US-Studie der Universität von Virginia bescheinigte Montessorischülern überdurchschnittliche Lesen- und Rechenfähigkeit, eine kreativere Sprache, Teamgeist und Gerechtigkeitssinn.

      Experte: Reformschulen sind Bereicherung

      Fast die Hälfte der Waldorfschüler macht anschließend das Abitur. „Teilweise stechen ihre Abiturnoten sogar heraus“, sagt der Düsseldorfer Bildungsforscher Heiner Barz. Auf dem Arbeitsmarkt sieht er die Chancen von Absolventen herkömmlicher Schulen und reformpädagogischer Schulen als gleich groß an.

      Auch Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes (DPhV), hält reformpädagogische und freie Schulen durch ihre Vielfalt für eine Bereicherung. „Ein Problem ist aber, dass sie sich nicht an den staatlich vorgegebenen Lehrplan halten und so alle Abschlüsse an staatlichen Schulen abgelegt werden müssen“, sagt er. Das könne zu besonderem Stress und Druck in der entscheidenden Phase führen.

      Freie Schulkonzepte fordern viel Elterneinsatz

      Auch müssten Eltern sich darüber klar sein, dass ihr Einsatz hier mehr gefragt ist als an staatlichen Schulen. Zehn Stunden Elterndienst sind im Monat an der Schule ihres Sohnes zu leisten, sagt Cordula Hausmann. Als ausgebildete Heilpraktikerin gibt sie dort einen Kurs zu alternativer Medizin. Zudem ist bei freien Schulen immer wieder mit Behördenhindernissen und Ungewissheiten zu rechnen.

      Erst im Juli etwa entzog die Sächsische Bildungsagentur der neu gegründeten Aktiven Schule in Dresden die Erlaubnis, weil sie Zweifel am Leistungsniveau hatte. Nur vorläufig darf dort weiter unterrichtet werden.

      Manches pädagogische Konzept mag tatsächlich paradiesisch anmuten: Im nordholländischen Zandvoort lässt die Projektschule De School die Kinder selbst entscheiden, wann sie Unterricht haben möchten, solange ein altersabhängiges Pensum an Wochenstunden eingehalten wird. Möchte ein Kind vormittags zum nah gelegenen Strand, reicht eine SMS zur Abmeldung.