Berlin. Rempeln, pöbeln, selbstdarstellen: Täglich erleben wir Narzissmus, der manchmal sogar in Gewalt mündet. Die Frage ist: Woher kommt das?

Während Rettungssanitäter einen einjährigen Jungen in Berlin wiederbeleben, scheint es für einen 23-Jährigen nichts Wichtigeres zu geben als den Gedanken: Wie komme ich schnell zur Arbeit? Weil der Rettungswagen sein Auto blockiert, beschädigt der Mann in der vergangenen Woche angeblich den Seitenspiegel des Rettungswagens und pöbelt die Sanitäter an: „Mir doch egal, wer hier gerade reanimiert wird“.

Sicher, das Verhalten des Mannes ist eine extreme Ausnahme – aber längst kein Einzelfall mehr. Jeder erlebt fast täglich narzisstisches Verhalten: den Rempler in der Bahn, den Selbstdarsteller auf Facebook oder den selbstverliebten US-Präsidenten. Bleibt also die Frage:

Sind wir gefangen im Zeitalter der Rücksichtslosigkeit? Und wie kommen wir da wieder raus?

Kultur der Rücksichtslosigkeit und Selbstdarstellung

In der Forschung wird zwischen Egoismus (selbstzentriertes Handeln ohne Rücksicht auf andere) und Narzissmus (Selbstverliebtheit mit Streben nach Anerkennung) unterschieden – in beiden Fällen stellt sich die Einzelperson ins Zentrum. Dass viele Menschen aktuell so selbstsüchtig handeln, dürfte laut dem Psychoanalytiker Micha Hilgers an einem Trend zu gestiegenem Leistungsdruck liegen. Und der übertrage sich schon auf die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft.

„Das glücklicherweise auslaufende Modell Turboabitur hat lediglich den Leistungsdruck eins zu eins weitergegeben“, so Hilgers. Nicht nur Kinder spüren diesen Druck, auch in der Wirtschaft und Politik scheint eine Kultur der Rücksichtslosigkeit und Selbstdarstellung vorzuherrschen. Was sind die Ursachen dafür?

Soziales Verhalten zu wenig im Fokus

Die Pädagogin Heidi Keller machte schon 2014 in einem „Zeit“-Beitrag das Schulsystem und vor allem die Kultusministerkonferenz (KMK) verantwortlich. Mit den Vorgaben für Lehrpläne würde die KMK den Fokus auf den einzelnen Schüler legen und soziales Verhalten nicht ausreichend berücksichtigen. Diesen Schuldzuweisungen widersprechen jedoch die großen Erziehungsverbände in Deutschland.

Lehrerverband: Kinder sollen Wünsche der Eltern umsetzen

Zur Kritik von Heidi Keller sagt Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Lehrerverband gegenüber unserer Redaktion: „Da wird die Rolle der Schulpolitik gnadenlos überschätzt.“ Wo 30 Kinder in einer Klasse zusammenkommen, könne die Förderung von Egoismus ausgeschlossen werden.

Trotzdem scheinen Narzissmus und Egoismus unseren Alltag zu bestimmen. Auf dem Weg ins Büro wird um den freien Platz in der U-Bahn gekämpft, im Meeting überbieten sich dann die Kollegen, um dem Chef zu gefallen. Und am Abend läuft im Fernsehen eine Casting-Show: Immer gewinnt der Schnellere und Bessere. Kein Wunder also, dass Eltern ihre Alltagserfahrung an ihre Kinder weitergeben.

Es zeige sich, „dass Kinder heute verstärkt zur Projektionsfläche der Erwartungen der eigenen Eltern werden“, sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Doch woher kommen diese Erwartungen? Beeinflussen uns rücksichtslose Selbstdarsteller wie Donald Trump oder Reality-Show-Sternchen etwa mehr als uns lieb ist?

Es gibt einen Weg aus der Rücksichtslosigkeit

Psychoanalytiker Hilgers sieht den Zusammenhang umgekehrt – was das Gewissen nicht weiter erleichtert. Laut Hilgers sei Trump ein Produkt unserer Gesellschaft und schließlich demokratisch gewählt. Eine Hoffnung, die bei dieser Analyse mitschwingt: Bei der nächsten Wahl können narzisstische Politiker auch wieder aus ihren Ämtern verschwinden. Und die anstrengende Casting-Show lässt sich ebenfalls abwählen: mit der Fernbedienung.

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    Es gibt noch weitere Wege aus dem Zeitalter des Narzissmus und Egoismus. Trotz – oder gerade wegen – des Leistungsdrucks sehnen sich Kinder und Jugendliche nach einem intakten sozialen Umfeld. Laut der aktuellen Shell-Jugendstudie bezeichnen 91 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen Freizeit und Familienkontakt als wichtig. Berufliche Karriere im klassischen Sinne scheinen ihnen nicht so wichtig zu sein. Zumindest sind nur 50 Prozent der Befragten bereit, dafür Opfer wie Überstunden zu bringen.

    Hoffnung findet sich auch in sozialen Netzwerken

    Weitere Hoffnung scheint ausgerechnet dort aufzukeimen, wo der Narzissmus besonders gerne zur Schau gestellt wird: in den sozialen Netzwerken. Zum Fall des Berliner Pöblers schreibt eine Nutzerin: „Ganz klasse übrigens von der Kitamitarbeiterin, dass sie so schnell geholfen hat. Super bitte mehr solcher Menschen und natürlich auch an die Sanitäter, die jeden Tag einen super Job machen“.

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