Berlin. Wissenschaftler haben die Wurzeln des Wikinger-Hypes untersucht. Eine der Ursachen: Viele Menschen sind enttäuscht von der Gegenwart.

Es dauerte keine 24 Stunden, da hatten Zeitungen und Onlineportale die Nachricht rund um den Globus verbreitet: Ein vor mehr als 100 Jahren entdecktes Skelett eines Wikingerkriegers gehört in Wirklichkeit zu einer Frau. Schwedische Wissenschaftler um Charlotte Hedenstierna-Jonson von der Universität Stockholm hatten dies mithilfe von Genanalysen herausgefunden und ihre Erkenntnisse im „American Journal of Physical Anthropology“ veröffentlicht.

Die Kriegerin, so berichteten die Forscher weiter, sei in der Welt herumgekommen, vermutlich habe sie Soldaten in die Schlacht geführt. In ihrem Grab lagen Schwert, Axt, Speer, Pfeile, Kampfmesser, zwei Schilde. Die Geschichte entwickelte eine bemerkenswerte Wucht: Seht her, diese Wikinger – starke Männer, starke Frauen.

136 Millionen Klicks innerhalb von 24 Stunden

„Wie schnell sich diese Nachricht verbreitet hat, hat mich mehr interessiert als die Tatsache, dass der angebliche Mann eine Frau war“, sagt Nina Nordström. Die Archäologin der Universität Tübingen untersucht seit Jahren den Wandel des Wikinger-Bildes. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zu diesem Thema. „Im Vergleich mit anderen Gruppierungen – Indianern, Römern oder Rittern – sind Wikinger derzeit die absolute Nummer eins“, sagt sie.

Als Beleg führt Nordström neben der großen Aufmerksamkeit für die Kriegerin eine aktuelle Zahl an. Die kurze Video-Vorschau zu Teil drei des Marvel-Comic-Helden-Epos Thor wurde nach der Veröffentlichung im Netz innerhalb von 24 Stunden 136 Millionen Mal angeklickt. Ende des Monats kommt der Film über den Donnergott aus der nordischen Mythologie in die Kinos.

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Wikinger-Hype begann schleichend

Nordström hat Medienberichte und Fanbewegungen analysiert und Interviews geführt mit Forscherkollegen und Ausstellungsmachern. Sie hat einen Wikinger-Hype ausgemacht, der vor sieben bis zehn Jahren schleichend begann und dann explodierte. In Europa, China, Amerika oder Saudi-Arabien.

„Interesse hat es auch schon zur Jahrhundertwende gegeben. Damals waren bei spektakulären Ausgrabungen in Norwegen zwei Wikinger-Schiffe entdeckt worden“, sagt Nordström. Oder in den 50er-Jahren, als die Filmindustrie in Hollywood die brandschatzenden Barbaren aus Nordeuropa als Thema für sich entdeckten.

Spiegelbild der Wunschvorstellungen

Einen Teil der aktuellen Interpretationen des Wikinger-Bildes nennt die Schwedin „ein Spiegelbild der Wunschvorstellungen“. Denn Gewissheiten gebe es wenige. „Ob die Frauen tatsächlich stark gewesen sind oder wie genau das Leben auf den Höfen ausgesehen hat, können wir nicht sagen.“ Der Begriff „Wikinger“ bezeichne zudem eine Vielzahl skandinavischer Siedler des Frühmittelalters (800 bis 1060 n. Chr.), die sich selbst nicht so nannten, und die im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn keine Aufzeichnungen hinterließen. Was man weiß, basiert in erster Linie auf ausgegrabenen Knochen oder Materialien.

Als Ursache für den Wandel der Wikinger zur globalen Marke hat Nordström ein Phänomen analysiert, das international weit verbreitet ist. Der polnische Soziologe Zygmunt Baumann hat es „Retrotopia“ getauft – der Verlust des Glaubens an die Idee, dass die Zukunft besser sein wird als die Vergangenheit.

„Der Bezug auf Kultur und Lebensweise der Wikinger hat in Zeiten einer Angst vor Globalisierung eine stabilisierende Wirkung“, sagt Nordström. Die Menschen suchten nach einem Ruhepol, sie wollten an Wohlstand, Lebensstil und Natur glauben. An Dinge, für die Skandinavien ebenso ein Symbol sei wie für Glück und Zufriedenheit, ökonomische Stärke oder ein gerechtes Steuermodell.

Seefahrer-Mut, Abenteuer, Revolution

„Die Wikinger sind die richtigen Figuren für das, was Menschen heute brauchen“, sagt Nordström. Sie stünden für Seefahrer-Mut, Abenteuer, Revolution – „für Menschen mit großem Potenzial, für edle Rebellen“. Und deshalb gebe es sie in Fernsehserien und auf Zeitschriften-Covern, mit polierten Helmen, schönen Kleidern und trendigen Frisuren. Besondere Blüten treibe dies derzeit in Großbritannien. „Dort lassen Menschen ihre DNA in der Hoffnung testen, dass sie mit den Menschen aus dem Norden verwandt sind“, sagt Nordström.

Wohin das Ganze noch führen wird? Archäologin Nordström kann sich nicht vorstellen, „dass dieser Hype ewig anhalten wird“. Womöglich setze sich in Zukunft eine andere Bewertung von Globalisierung und Vergangenheit durch. „Es gibt ja die ersten Stimmen, die sagen, man müsse aufhören, die Gegenwart immer nur negativ zu betrachten“, sagt sie.

Sollten sich neue Utopien entwickeln, verschwänden die Wikinger womöglich wieder in der Versenkung. Oder sie bekämen das wenig schmeichelhafte Image zurück, das sie in der Geschichte schon einmal hatten: langhaarige, primitive Wilde, die über Meer und Fluss fahren, Städte, Dörfer oder Klöster überfallen und Menschen versklaven.