Washington. Die Sektengründer hatten 100 Ehefrauen und Hunderte Kinder. So entstand ein Gendefekt-Desaster. Ärzte warnen vor einer Katastrophe.

Der berühmte Zion-Nationalpark liegt um die Ecke. Und bis zum Grand Canyon ist es auch nicht weit. Aber was kann die monumentale Schönheit der Natur schon ausrichten, wenn Erdbewohner aus falsch verstandener Frömmigkeit fortgesetzt Leid und Elend erzeugen? Diese Frage stellt sich im idyllischen Short Creek. Ärzte im Grenzgebiet der US-Bundesstaaten Utah und Arizona warnen vor einer Katastrophe.

In den Reihen der „Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (FLDS), einer radikalen Abspaltung der Mormonen, häufen sich Fälle eines genetischen Defekts, der mit schweren Missbildungen und massiver geistiger Behinderung einhergeht. Ursache der unheilbaren Erkrankung ist nach Überzeugung des Kinderarztes Dr. Theodore Tarby aus Phoenix Inzucht. In den unter Short Creek bekannten Städtchen Hildale und Colorado City, wo Vielehe und Zwangsverheiratungen von Minderjährigen das gesellschaftliche Leben bestimmen, ist unter den 7500 Einwohnern blutsverwandtschaftlich nahezu jeder auf die Sektengründer Joseph Smith Jessop und John Yates Barlow zurückzuverfolgen.

Darum wird mit einem exponentiellen Anstieg der Krankheit gerechnet, die bis vor Kurzem noch in einem Verhältnis von 1:400 Millionen ausbrach. Zwar ist Polygamie in den USA seit 1890 verboten. Doch gerade in den abgelegenen Gegenden in Utah, dem Hauptsiedlungsgebiet der Mormonen, sehen die Behörden oft weg.

Tausende Eltern fehlt eine DNA-Sequenz

Die beiden Sektengründer flüchteten sich in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Abspaltung in das einsame Gebiet, nachdem die Mormonen in Salt Lake City auf Druck der Regierung in Washington der Polygamie abgeschworen hatten. Jessop und Barlow hatten Archiven zufolge zusammen über 100 Ehefrauen und Hunderte Kinder und Enkelkinder. Weil einer der Gründer das rezessive Gen mitbrachte, wurde der Defekt immer weiter vererbt.

In Short Creek, davon geht Dr. Tarby aus, besitzen heute Tausende Eltern gleichermaßen die fehlerhafte DNA-Sequenz. Zeugen sie ein Kind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Stoffwechselkrankheit Fumarazidurie ausbricht. „Ohne frisches Blut von außen“, sagt Dr. Tarby, „wird der Gen-Pool immer kleiner und die Zahl der Kranken steigt.“ Zumal das wichtigste Gebot der FLDS lautet: „Jeder Mann muss mindestens drei Ehefrauen haben, um in den Himmel zu kommen.“

Eine Veränderung des Paarungsverhaltens kommt für den „Propheten“ der Sekte aber nicht infrage: Warren Jeffs, der 2002 von seinem Vater nicht nur die Führungsverantwortung, sondern (zuzüglich zu den eigenen 78) weitere 27 Ehefrauen erbte, erfüllt laut Sam Brower das Kriterium eines waschechten Gangsters. Der Privatdetektiv aus Utah, der das lesenswerte Buch „Die Beute des Propheten“ geschrieben hat, sagte unserer Redaktion: „Die FLDS ist keine missverstandene religiöse Gruppe. Es ist ein Verbrecher-Syndikat. Jeffs und seine Leute beuten junge Mädchen als Gebärmaschinen und zum Vergnügen älterer Herren aus.“

Vorgeblich religiöse Gruppe ist Verbrecher-Syndikat

Das FBI setzte Warren Jeffs 2005 auf die Liste der meistgesuchten Verbrecher in Amerika. Weil er Minderjährige missbraucht hat, sitzt er lebenslänglich in Haft. Was Jeffs aber nicht daran hindert, aus dem Gefängnis weiter für seine Schäfchen das Regiment zu führen: kein Fernsehen, kein Internet, kein Radio, kein Telefon, keine Bücher und kein Lachen. Weil bei jedem Lachen „ein Stück Göttlichkeit den Körper für immer verlässt“.

Umso verwunderlicher, dass staatliche Stellen der FLDS-Organisation seit Jahren Hunderttausende Dollar Hilfe für die Versorgung der Kranken zuschanzen, ohne ansonsten einzugreifen. Selbst ein Bericht von „Vice“ hat daran nichts geändert. Das innovative Fernsehmagazin hatte zuletzt von einem ominösen Friedhof in der Nähe von Short Creek berichtet. Dort sollen Dutzende Kleinkinder der Sekte beerdigt sein, die mit schweren Missbildungen auf die Welt gekommen sind. Weil die Eltern sie nicht haben wollten, „wurden sie getötet“, sagt das ehemalige Sektenmitglied Ron Rohbock.