Sydney. Mittellose Australier haben eine Zeltstadt errichtet – mitten in Sydney. Denn sie können sich die horrende Mieten nicht mehr leisten.

Auf den ersten Blick erinnert das Camp mitten in Sydneys Finanzviertel an ein Jugendzeltlager: Mehr als 60 Menschen leben dort, es gibt eine improvisierte Straßenküche, in der eine Helferin Würstchen brät. Jemand hat ein Bücherregal voller Schmöker aufgestellt, damit die Camper etwas zu lesen haben. Auf leeren Milchkästen hocken junge Menschen und diskutieren lautstark. Doch so lebenswert das Camp auch wirkt – es steht für ein existenzielles Problem, unter dem die Menschen in Sydney leiden: Obdachlose protestieren mit der Zeltstadt auf dem bekannten Martin Place gegen die Wohnungsnot in der australischen Metropole.

Manche hausen bereits seit Monaten in einem der über 50 kleinen, zugigen Zelte. Denn viele Bewohner können sich im teuren Sydney einfach keine Wohnung mehr leisten. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in guter Lage kostet um die 1750 Euro, und selbst in normalen Stadtteilen verlangen Vermieter für ein kleines Apartment 1250 Euro Monatsmiete.

Protest vor die Augen der Politiker tragen

Auf Touristen wirkt die Szenerie absurd: Die bunten Zelte stehen zwischen riesigen Bankgebäuden, das australische Parlament ist nur einen Steinwurf entfernt. Der Gründer der Zeltstadt, ein Mann namens Lanz Priestley, hat das Camp bewusst an dieser Stelle aufgezogen. Er wolle den Protest vor die Augen der Politiker tragen.

Auf eine Wand haben er und andere Aktivisten die Parolen der Zeltbewohner geschrieben: „Das richtige Ziel ist es, die Gesellschaft so zu rekonstruieren, dass Armut unmöglich ist“, steht da – ein Zitat aus Oscar Wildes Aufsatz „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“. Oder: „Ihr könnt eine Idee nicht vertreiben, deren Zeit gekommen ist“. Priestley weiß, dass sich viele Politiker über die Aktion aufregen. „Aber für die Bewohner sind die Zelte eine Unterkunft, die sie sich leisten können.“

In vielen Metropolen nimmt die Wohnungsnot dramatische Ausmaße an

Sydney steht stellvertretend für eine globale Entwicklung: In vielen Metropolen nimmt die Wohnungsnot dramatische Ausmaße an. Auch in Tel Aviv entstand vor zwei Jahren solch ein Protestcamp. In London haben die Mieten ein Niveau erreicht, das immer mehr Briten auf Hausboote auf der Themse treibt, weil sie sich eine Wohnung nicht mehr leisten können – Ein-Zimmer-Apartments werden mitunter für 14 Millionen Euro verkauft. Und im Silicon Valley unweit von San Francisco will der Internetriese Facebook ein ganzes Dorf nahe seiner Firmenzentrale bauen, weil sogar gut verdienende Facebook-Mitarbeiter keine bezahlbare Wohnung finden.

In Australien hat das Protestcamp nicht nur Unterstützer. Vielen Bürgern und Politikern ist es ein Dorn im Auge. Die Premierministerin des Bundesstaates New South Wales, in dem Sydney liegt, will das Camp auflösen. Ein konservativer Politiker nennt die Zeltstadt gar eine „Schande“ für Sydney und völlig „außer Kontrolle“. „Die Leute können da nicht mal mehr in Ruhe langgehen, und das soll Sydneys Hauptdurchgangspassage sein“, klagt Scott Farlow. In seinen Augen ist das Camp „eine politische Bewegung und keine echte Lösung für Obdachlosigkeit“. Bürgermeisterin Clover Moore sagt dagegen: „Obdachlos zu sein, ist nicht illegal.“

Die Bewohner halten zusammen

Dem stimmt auch Steve zu, der seinen Nachnamen lieber nicht veröffentlicht haben will. Er sei gerade aus dem Gefängnis raus, erklärt der Campbewohner, und müsse ein neues Leben beginnen. In der Zeltstadt sei er sicher. Das findet auch seine Zeltnachbarin Mallissa, die ein Opfer häuslicher Gewalt ist. Beide fühlen sich wohl und schätzen vor allem die Unterstützung derjenigen Australier, die das Camp mit offenen Armen aufnehmen. „Familien bringen Pizza für uns, andere kommen auf einen Kaffee vorbei“, schwärmt Steve. „Die Gemeinschaft ist einmalig.“

Die Solidarität und der Zusammenhalt sind es auch, die sogar Menschen anlocken, die gar nicht mehr obdachlos sind – etwa weil ihnen die Behörden eine Sozialwohnung angeboten haben. Ein älterer Mann beispielsweise erzählt, dass man ihn in einem Hotelzimmer untergebracht habe, das 115 Euro am Tag koste. Zum Essen und Plaudern kommt er trotzdem täglich zurück zu seinen alten Leidensgenossen. Für ihn ist die Zeltstadt wie ein Familienersatz. Denn da, erzählt der Rentner, sei jeder willkommen.