Sydney. Eileen Kramer steht auch mit 102 Jahren noch als Tänzerin auf der Bühne. Sie gilt als eine der einflussreichsten Personen Australiens.

102 Jahre – ein stattliches Alter, würden die einen sagen. Ein Alter, in dem man im Alters- oder gar im Pflegeheim ist, die anderen. Alles Quatsch, sagt Eileen Kramer. Die Australierin bricht mit allen Klischees und Stereotypen, die das Älterwerden umranken. Das Wort „alt“ nehme sie selbst nie in den Mund, sagte sie einmal. Stattdessen sage Kramer eben, sie sei schon seit Langem auf der Erde. „Wenn man kreative Arbeit macht, ist man absolut zeitlos. In der Kreativität gibt es kein Alter.“ Dass sie nicht tot sei, liege ganz einfach daran, dass „ich mich entschieden habe, es nicht zu sein“.

Kramer ist in Australien eine ­Berühmtheit und eine kulturelle Institution. Sie ist nicht nur Tänzerin, Choreografin, Autorin, Kostüm­designerin und Malerin, die 102-Jährige ist auch das Gesicht des Arts Health Institute (Gesundheit durch Kunst) in Sydney. Das Institut engagiert sich dafür, älteren Menschen durch Kunst, Musik und Tanz mehr Lebensqualität und Freude zu geben. Kramer selbst trat noch als 100-Jährige im Belvoir Theater in Sydney auf, wo sie in der Produktion des „Zauberers von Oz“ mitspielte. Außerdem war sie an einem Musikvideo beteiligt und wirkte an einem Modeprojekt mit.

Bedeutende Rolle für die Lebensqualität

Ihre Unbeugsamkeit gegenüber den Erscheinungen des Alters hat ihr einen renommierten Preis eingebracht: Sie wurde von der australischen Bank Westpac und der „Australian Financial Review“ als eine der 100 einflussreichsten Frauen des Landes ausgezeichnet. „Eileen fordert die Klischees des Alterns heraus. Sie ist clever und schlau und eine Frau mit Stil, die noch immer Menschen weltweit inspiriert”, sagte die Vorsitzende des Arts Health Institute, Maggie Haertsch. Später erklärte Kramer in einem Forum, dass Kunst ihrer Meinung nach eine bedeutende Rolle für die Lebensqualität eines Menschen spiele.

„Ich glaube, dass die Fähigkeit, immer weiter zu lernen und etwas Neues zu lernen, niemals unterschätzt werden sollte, egal welche Fähigkeit man hat.“ Dass sie selbst die Fähigkeit zum Tanzen hat, entdeckte Eileen Kramer erst vergleichsweise spät in ihrem Leben – im Alter von 24 Jahren. Sie sah eine Aufführung des Walzers „An der schönen, blauen Donau“. Ab diesem Zeitpunkt sei sie dem Tanz verfallen gewesen.

Kramer folgt den Vorgaben ihrer Lehrerin

Kramer wurde schließlich Schülerin der berühmten Choreografin Gertrud Bodenwieser. Die Österreicherin, die als Wegbereiterin des Ausdrucktanzes gilt, floh 1938 vor den Nationalsozialisten über Kolumbien nach Australien. In Sydney gründete sie eine Schule und ein Tanztheater, mit dem Eileen Kramer über zehn Jahre hinweg auf Tournee ging. Bis heute folgt sie den Vorgaben ihrer großen Lehrerin: „Ich bin keine akrobatische Tänzerin. Ich bewege mich langsam und gefühlvoll.“

Nachdem das „Bodenwieser Ballet“ 1959 mit dem Tod der österreichischen Künstlerin geschlossen wurde, reiste Eileen Kramer durch Indien, Pakistan, Afrika und Europa. Mehrere Jahrzehnte lebte und arbeitete sie in den USA. Erst mit 99 Jahren entschloss sich die Tänzerin, wieder in ihre Heimat Australien zurückzukehren. Sie habe die Kookaburras vermisst, heißt es auf der Webseite des Arts Health Institute – eine australische Vogelart, die ein gackerndes Lachen von sich gibt.

Für November ist ein neues Stück geplant

Und auch für die Zukunft hat ­Eileen Kramer Pläne. Noch immer tritt sie regelmäßig als Balletttänzerin auf und arbeitet an einem neuen Stück, das im November Premiere haben soll. „Schaffe dir immer selbst eine Gelegenheit oder nimm eine Gelegenheit wahr“, sagt Kramer. Mit ihrer Einstellung inspiriert sie auch viele jüngere Künstler. „Es ist einfach beeindruckend, wie sie ihr ganzes Leben der Kunst verschrieben hat“, sagt Institutsleiterin Maggie Haertsch. „Eileen ist und bleibt ein Energiebündel.“

Solange sie körperlich dazu in der Lage ist, wolle sie weiter tanzen, sagt Kramer. Ein Leben ohne Bewegung sei ohnehin nicht vorstellbar. „Tanz stärkt mich, körperlich und psychologisch.“ Im November wolle sie auf jeden Fall auf der Bühne stehen. Notfalls auch mit einem Gehstock. „Ich plane aber, normal zu gehen, denn außer meinem Gleichgewicht ist nichts verkehrt mit mir.“ Sollte sie wirklich einen Gehstock benötigen, werde sie einfach ihren Tanzpartner bitten, auch einen zu nehmen.