Berlin. Mit Entenschnute, vor Sehenswürdigkeiten, neben Prominenten: Wissenschaftler haben das Selfie-Phänomen erstmals weltweit untersucht.

„Roast me“ (Grill mich) ist das neue Phänomen am Selfie-Himmel: Man lädt im Internetforum namens Reddit ein Handy-Selbstporträt hoch und wartet auf die bissige Kritik anderer. Selbst attraktiv aussehende Menschen werden dort gegrillt.

Ein Beispiel: Die junge Mitarbeiterin eines Schnellimbisses hat sich in ihrer Teamkleidung fotografiert, sie stützt sich locker auf die Theke und strahlt in die Kamera. Süß sieht das aus, aber die Reaktionen sind boshaft. „Es ist cool, dass deine Hose (sie ist beige, Anm. der Red.), deine Zähne und dein Gesicht exakt die gleiche Farbe haben“, lautet einer der harmloseren Kommentare. Für Tausende Nutzer, hauptsächlich Amerikaner, ist „Roast me“ eine Form der Selbstironie. Sie lieben es, verspottet zu werden.

Selfies sind seit 2004 zur Königsdisziplin der Selbstinszenierung avanciert. Bald jeden Monat rufen die Nutzer des kostenlosen Online-Dienstes Insta­gram, mit dem man Fotos und Videos teilen kann, einen neuen Thementrend aus: Ob „Duckface“ (Entenschnute), „Fingermouthing“ (gekrümmter Zeigefinger an den Lippen) oder „Chestfies“ (Fokus auf die Körpermitte) – keine Banalität wird ausgelassen.

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    15 Studien in den vergangenen drei Jahren

    Und auch in der realen Umgebung sind Selfies ständig präsent, in Form von Menschen mit langen Armen und schiefen Hälsen. Kaum wer fragt noch, ob man ihn vor einer Sehenswürdigkeit oder mit einem Prominenten fotografieren kann. Die Smartphone-Besitzer nehmen das jetzt selbst in die Hand.

    Auch die Wissenschaft hat das Phänomen entdeckt. Die Zahl der Studien, die sich mit Selfies beschäftigen, wächst und wächst. Das Wissenschaftsregister Science Direct zählt 15 – veröffentlicht in den letzten drei Jahren. Das Georgia Institute of Technology in der US-Stadt Atlanta hat das Thema jetzt eigenen Angaben zufolge sogar erstmals weltweit in großem Stil untersucht. Auf Insta­gram durchkämmten die Forscher in einem Zeitraum von drei Monaten insgesamt 2,5 Millionen Posts mit dem Hashtag #Selfie und werteten sie aus. Gut die Hälfte davon zeigte Gesichter, andere waren oft nur Spam oder Texte.

    Ausnahme in der Kategorie „Geschlecht und Sexualität“

    Das Ergebnis: Bei den meisten Fotos (52 Prozent) ging es um Aussehen und Mode. Konkret: Lippen, Make-up oder Kleider werden ins Bild gesetzt. Dabei gibt es sogar eine Unterkategorie: „Carfies“ – Bilder, die zumeist Frauen auf dem Fahrersitz im Auto zeigten. Abgeschlagen folgten „soziale Selfies“ mit Freunden oder Haustieren (14 Prozent), Bilder der eigenen ethnischen Herkunft (13 Prozent), Selfies von Reisen (sieben Prozent) und sportlichen Betätigungen (fünf Prozent). Am ungewöhnlichsten – und das ist wenig verwunderlich – waren Fotos von der Arbeit (0,06 Prozent).

    In fast allen Selfie-Kategorien posteten deutlich mehr Frauen als Männer. Ausnahme war nur das Thema „Geschlecht und Sexualität“, wo mehr als zwei Drittel der Ich-Fotos von Männern stammten. „Unsere Daten zeigen ein sehr traditionelles Porträt der Geschlechterrollen“, schreiben die Forscher. Bei der Altersstruktur war es keine Überraschung, dass 57 Prozent der Selfie-Posts von Menschen im Alter von 18 bis 35 Jahren stammten, 30 Prozent von Kindern und Jugendlichen und nur 13 Prozent von Menschen über 35. „Mit Selfies entscheiden wir, wie wir uns dem Publikum präsentieren, und das Publikum entscheidet, wie es uns wahrnimmt“, schreibt die Hauptautorin der Studie, Julia Deeb-Swihart.

    Wohlstand, Gesundheit und Attraktivität betonen

    Wie in anderen sozialen Medien auch, würden Menschen auf Instagram eine Identität entwerfen, die ihren Wohlstand, ihre Gesundheit und ihre körperliche Attraktivität betont. „Selfies sind, auf eine Art, eine Mischung aus unserem Online- und Offline-Selbst. Sie sind eine Möglichkeit, zu zeigen, was wahr ist in deinem Leben. Oder was Menschen zumindest glauben sollen, was wahr ist.“

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    Die Forscher aus Atlanta erinnern dazu an eine Fotoserie der thailändischen Fotografin Chompoo Baritone, in der sie die krude Realität rund um die sorgfältigen Inszenierungen festhält: Neben einer Turnerin in beeindruckendem Handstand steht ein – später wegretuschierter – Helfer, der sie an den Beinen hochhält. Ein anderes Foto zeigt ein ungemachtes Bett und Kleiderberge neben einem sauber gestalteten Laptop-Arbeitsplatz. Und auch das Foto eines perfekt angerichteten und nachhaltigen Essens gibt nicht die ganze Wirklichkeit wieder, denn etwas abseits liegen die Fertigzutaten auf dem Tisch.

    Schon Shakespeare hat das so gesehen

    Chompoo Baritone kritisierte mit dem Projekt, dass die Menschen ihr Leben durch die Plattformen in sozialen Medien aufregender darstellen, als es in Wahrheit ist. Das allerdings hat schon William Shakespeare vor fast 400 Jahren so gesehen – wenn auch in anderer Form. „Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler“, schrieb der englische Dramatiker, Lyriker und Schauspieler in seinem Theaterstück „Wie es Euch gefällt“.

    Um das Schmusen mit der Katze, den Besuch beim Friseur oder den Biss in das morgendliche Frühstücksbrötchen durch das öffentliche Netz zu schicken, bedarf es dabei einer guten Portion Selbstverliebtheit. So gab es bereits eine ganze Reihe von Studien, die zeigten, was nicht allzu verwunderlich ist: Narzisstische Menschen präsentieren sich in sozialen Netzwerken eher als weniger selbstverliebte.

    Kameraposition schmeichelt dem Körpergewicht

    Aktuell ist die Erkenntnis, dass die Wirkung der Ich-Fotos unter anderem von der Perspektive abhängig ist. Das haben Psychologen der Universität Bamberg herausgefunden. Besonders Frauen wirken demnach auf Selfies attraktiver, wenn sie ihre linke Gesichtshälfte zur Kamera drehen. Zeigen sie ihre rechte, wirken sie hilfsbereiter und intelligenter.

    In einer Studie aus dem Jahr 2012 konnten die Wissenschaftler zusammen mit Kollegen der Universität Mainz zudem zeigen, dass eine Kameraposition von leicht oberhalb des Porträtierten schmeichelnd auf die Einschätzung des Körpergewichts wirkt. Bis zu 15 Kilogramm weniger Gewicht rechneten die Probanden jenen Fotografierten zu, die sich schräg von oben aus einem seitlichen Winkel aufgenommen hatten.

    Sind die Zusammenhänge von Perspektive und Wirkung einmal bewusst, könnten Fotografierte sie gezielt einsetzen, schreiben die Mainzer Forscher. Zum Beispiel für professionell wirkende Bewerbungsfotos oder bei der Suche nach einem Partner im Internet. Aber Vorsicht: Was Selfies vorgeben, kann sich bei einem Treffen von Angesicht zu Angesicht in Luft auflösen. (mit dpa)