Biel/Berlin. Ein Schweizer überfährt auf der Autobahn eine Selbstmörderin. Ein Gericht verurteilt ihn: Mit 100 km/h sei er zu schnell gefahren.

Es war in den frühen Morgenstunden. Die 22-jährige Jana R. war zu Fuß auf der A 6 in der Schweiz unterwegs, mit 1,6 Promille Alkohol im Blut, als sie sich auf die Fahrbahn legt, um zu sterben. Kurze Zeit später wird sie überfahren. Der Autofahrer konnte ihr nicht mehr ausweichen.

Über ein Jahr später wurde nun der Unfallfahrer vom Bieler Regionalgericht wegen fahrlässiger Tötung zur Zahlung einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Er muss umgerechnet etwa 1150 Euro plus die Prozesskosten zahlen. Ein Fall, der für viel Aufsehen in der Schweiz sorgt.

Denn der 48-jährige Mann hielt sich an das vorgeschriebene Tempolimit, fuhr 100 Stundenkilometer. Abgelenkt oder gar angetrunken war er auch nicht, wie Schweizer Medien schreiben.

Unfallfahrer leidet unter Vorfall

Er habe sich auf dem Heimweg befunden und kenne die Strecke gut, zitiert der „Blick“ den 48-Jährigen. Plötzlich habe er mitten auf der Autobahn etwas liegen sehen. „Ich dachte, es sei ein Autoteil oder eventuell ein Tier. Ich versuchte, dem Gegenstand nach rechts auszuweichen und gleichzeitig zu bremsen.“ Seit dem Unfall sei der Mann, der als Lastwagenfahrer arbeitet, krankgeschrieben, so der „Blick“. „Ich fühle mich wie ein Opfer“, erzählt der Familienvater weiter.

Das Gericht urteilte allerdings anders, wie örtliche Medien berichten: Der Mann hätte bei den Sichtverhältnissen höchstens 60 bis 70 Stundenkilometer fahren dürfen, um der jungen Frau noch ausweichen zu können. „Autofahrer müssen auch auf der Autobahn mit Personen auf der Fahrbahn rechnen“, so die Urteilsbegründung.

Eine Entscheidung, die viele Schweizer Autofahrer nicht nachvollziehen können. Doch für den Schweizer Verkehrsexperten Peter Förtsch ist die Sachlage eindeutig. Er bestätigt das Urteil, wie er der Seite 20 Minuten erläutert: „Es darf nur so schnell gefahren werden, dass man innerhalb der überblickbaren Strecke anhalten kann.“

Deutsche Verkehrsexperten sehen das Urteil kritischer. Matthias Cygon vom Berliner Arbeitskreis von Verkehrsexperten sagte dieser Redaktion: „Die Rechtsprechung in Deutschland ist nicht eindeutig.“ Daher könne er nicht pauschal sagen, ob unter den Bedingungen wie in der Schweiz auch hierzulande ein Fahrer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden wäre. Dennoch: „Wenn ich 100 Stundenkilometer fahre, bin ich eigentlich auf der richtigen Seite“, so Cygon. „Aber es gibt immer Richter, die anders urteilen.“ (jha)

Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.